SGO-Galerie

Hefte 35 und 36

Man kann nicht sagen, dass Boulogne-Billancourt seine industrielle Vergangenheit leugnet. So hat man auf einem zentralen Platz, direkt vor den ehemaligen Renaultwerken, sogar jene Sirene öffentlich aufgestellt, die einst Beginn und Ende der Schicht signalisierte. Und auch die Häuser veranstalten eine Art Mimikry: Das berühmte Werkstor, vor dem sich die Leute im Mai 1968 versammelten, um den größten wilden Streik in der europäischen Nachkriegsgeschichte zu beginnen, ist baulich nunmehr in eine Schule integriert. Der Eingang zu den Montagebändern ist weiß gestrichen und mit dem für öffentliche Gebäude obligatorischen Liberté, Égalité, Fraternité versehen. Ein paar Schritte weiter hat ein bekannter Architekt auf einer der vielen Neubauten die gezackte Form eines Fabrikdachs nachgeahmt. Und es gibt, in einem Bürohaus, in dessen Erdgeschoss der Umbau der an Paris angehängten Stadt visualisiert wird, selbstverständlich große Fotografien von jener Arbeit, durch die im vergangenen Jahrhundert die Massenproduktion von erschwinglichen Kleinwagen möglich wurde.

Die Töchter und Söhne der Renaultarbeiter:innen sind freilich in unserer Gegenwart in einem anderen Metier beschäftigt. Man schraubt nicht mehr, man baut, und nicht mehr für die Vielen, sondern eher für Wenige. Rundherum sind mit den Jahren normalerweise unerschwingliche Wohnungen entstanden, nicht für die oft migrantischen Malocher.innen, eher wohl für die besser bezahlten Angestellten, die sich nach Feierabend nach einem kurzen Arbeitsweg sehnen, und die in einer neu angesiedelten Bankzentrale oder einem Immobilienkonzern beschäftigt sind. Oder auch in der Verwaltung jenes Automobilkonzerns, die sich fast ohne Industrie noch immer hier befindet.

Es ist eine riesige Baustelle, wie für die Ewigkeit bestimmt. So ist noch immer, über zwei Jahrzehnte nach der Schließung des Montagewerks und bald zehn Jahre nach der Eröffnung der riesigen, futuristischen Philharmonie, der Zutritt zur Île Seguin, auf der der größere Teil des Werks ehemals lag, für Flanierende weitgehend geschlossen. Doch auch, wenn diese Insel einstweilen noch den Bauarbeiter:innen vorbehalten bleibt: Sie gehört nicht ihnen, sondern für mindestens 30 Jahre einem Immobilienkonsortium, das auf Kosten der Allgemeinheit Profite machen darf. Der lokale Staat nennt das Win-win-Situation. Wird zuletzt, in vielen Jahren, jene neue Stadt alle verbliebenen Eingänge zum Werk geschluckt haben? Und woran wird man sich dann erinnern?

Hefte 33 und 34

Beppe Fenoglio (1922-1963) ist ein viel zu früh gestorbener italienischer Schriftsteller, der in seinen Romanen unter anderem seine Erfahrungen aus dem Kampf gegen den Faschismus bearbeitet hat. Sein Roman „Johnny der Partisan“ ist, anders als viele Schilderungen aus dieser Zeit, nicht einseitig durch Heroismus geprägt, sondern schildert auch die Verletzungen und Traumata, die durch Gewalt und Gegengewalt im Krieg ausgelöst werden. 

Heft 32

Hafenstreik 15.07.2022small

Demo während des 3. Hafenarbeiterstreiks in Hamburg am 15.07.2022 mit
mehreren Tausend Teilnehmer:innen. In seiner Größe erinnert er an die Streiks in den Jahren 1951 und 1978. Die Hafenarbeiter:innen in den norddeutschen Häfen 2022 sind für mittlerweile 3,5 Tage in den Ausstand gegangen, um einen realen
Ausgleich der Inflationsrate für die ca. 12.000 tariflich beschäftigten
Hafenarbeiter:innen durchzusetzen.

Heft 31

Genova_März22

Die Antikriegsbewegung in Italien positioniert sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, die Erhöhung der Militärausgaben und die Kriegspropaganda im eigenen Land. Das Foto zeigt ein Mobilisierungsplakat zur Antikriegsdemonstration vom 5. März an der stazione marittima, einem der größten Kreuzfahrtterminals Italiens (Genua-Sampierdarena, März 2022).

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Die Berliner Krankenhausbewegung kämpft für bessere Arbeits- und
Lohnbedingungen, die eine menschenwürdige Pflege ermöglichen. Ihr Kampf
ist unser aller Kampf! Das Foto zeigt die Solidarisierung von
Anwohner*innen der Yorckstraße (Berlin, August 2021).

Heft 29

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Das Foto von Sarah Graber Majchrzak aus dem Jahre 2011 zeigt einen Teil der Wandmalerei „Werft“ (Mural „Stocznia“ 2004-2012) von Iwona Zając. 2004 schrieb die Künstlerin Sätze aus Gesprächen mit Arbeiter*innen auf die Mauer der ehemaligen Leninwerft, mitten in der Stadt Gdańsk. Ziel war, die Geschichte der Befragten sichtbar zu machen, ihre Träume, Bedürfnisse und Angst. An der Mauer kamen täglich tausende Menschen vorbei. Sie wurde 2013 abgerissen, wie praktisch alle Bauten, die einst auf dem riesigen Werftgelände standen und eindrückliches Zeugnis der Arbeitsstätte waren. Nun entsteht da, wo einst gearbeitet und gestreikt wurde, ein neues modernes Stadtviertel mit Meereszugang. Die Künstlerin hat das analoge Kunstobjekt in den digitalen Raum überführt. Die einst auf den Mauern zu findenden Aussagen können hier nachgelesen werden.

Heft 27

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Im März 2015 begann an der Universität Kapstadt eine Bewegung von Studierenden und Lehrenden für die Entfernung eines Denkmals von Cecil Rhodes. Rhodes war eine führende Figur der Kolonialpolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ein Minen-Magnat und Ideologe weltweiter britischer Vorherrschaft. Das hier gezeigte Foto aus einer Serie von Desmond Bowles zeigt den Erfolg der Proteste. Bereits einen Monat nach den ersten Demonstrationen fand angesichts eines entsprechenden offiziellen Beschlusses der Gremien der Universität der Abtransport der Skulptur statt. Auch in ästhetischer Hinsicht unterscheidet das Bild sich deshalb von jenen, die wir aus der aktuellen Presse über Angriffe auf die koloniale Erinnerung entnehmen können. Denn die Aktion mit dem Kran war nur der Anfang: Die Proteste weiteten sich danach auf viele südafrikanische Universitäten aus. Sie traten für die Dekolonialisierung von Bildung und gegen institutionellen Rassismus an Universitäten ein, aber auch für ein Ende der sozialen Exklusivität des Studiums. Studierende und Lehrende in vielen Ländern übernahmen diese Forderungen, so an der Universität Oxford. Rodes must fall  kann auch angesichts des transnationalen Charakters der Proteste als eine (von vielen) Vorgänger*innen von Black Lives Matter gesehen werden.

Heft 26

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Plakat im Format A4, gesehen Anfang April 2020, kurze Zeit nach dem Eintreten des Lockdowns in der Corona-Pandemie, im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg.

Heft 25

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Marseille, im Juni 2019: Das Foto von Peter Birke zeigt Plakate im A3-Format mit den Rücken von Gelbwesten. Jedes Plakat enthält ein individuelles Motiv. Das Bild umfasst nur einen kleinen Ausschnitt aus einer Serie von etwa vier Dutzend unterschiedlichen Rückenfotos. Die auf den Westen zu lesenden Aussagen zur Beteiligung an den zu diesem Zeitpunkt bald ein ganzes Jahr andauernden Protesten sind vielfältig. Hier reichen sie vom Bezug auf die Opfer der Polizeigewalt (Zineb und Christoph) über den Wunsch zu leben statt zu überleben bis zur Utopie der Abschaffung aller Herrschaft. Alle Aussagen sind in der Ich-Form gemacht, Gewerkschaften und Parteien sind weder auf dem Plakat (als „Impressum“, Logo oder Ähnliches) zu sehen noch den Aussagen selbst zu entnehmen. Man bezieht sich nicht durch eine Organisation, sondern durch ein Zeichen aufeinander: Die sichtbare Gemeinsamkeit der Ich-Aussagen ist die gelbe Weste. Das Foto ist an einem Platz aufgenommen, der nach dem Sozialisten und Kriegsgegner Jean Jaurès benannt wurde und der an der Grenze zwischen dem 1. und 5. Arrondissement liegt – einer Gegend mit starkem Gentrifizierungsdruck, der in Marseille zurzeit in unzähligen Straßensperren, einstürzenden Altbauten und Absperrungen aller Art sichtbar wird. Lou Marin beschreibt in der Zeitschrift Graswurzelrevolution die damit einhergehende Mischung aus Ausbeutung und existenzieller Bedrohung von Mieter_innen. Das fotografierte Plakat klebt an einem Bauzaun für ein teures Neubauprojekt, der im Sommer 2019 den gesamten Platz großflächig und für lange Zeit absperrte und den Bewohner_innen der umgebenden noch relativ armen Quartiere lange Umwege über Staubstraßen abverlangte – immer entlang des Zauns, der eine endlose Fläche für wildes Plakatieren abgab. Man kann sehen, wie sich die grobe Struktur des Bauzauns dem Papier der Plakate eingeprägt hat. Unter den fotografierten Plakaten wird sich wohl eine weitere Schicht mit Einladungen, Aussagen und Protesten befinden.

Heft 24

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Viel später als in Teilen von Manhattan und etwas später als beispielsweise in Willamsburg kam es im New Yorker Stadteil Bushwick zu einem schnellen Anstieg der Immobilienpreise. Auf dieser Grundlage setzte in den vergangenen Jahren eine massive Verdrängung von Menschen mit geringeren Einkommen ein. Seit Mitte der 2010er Jahre kam es zu praktisch permanenten Protesten gegen die städtische Wohnungsbaupolitik und die Immobilienwirtschaft, getragen durch die Brooklyn Anti Gentrification Coalition sowie durch Gruppen wie Mi Casa no es su Casa sowie diverse auf Quartiersebene aktive Mieterassoziationen. Wir veröffentlichen dieses Bild von Peter Birke auch anlässlich dessen, dass Anfang April 2019 erneut auch hierzulande Zehntausende gegen den aktuellen „Mietenwahnsinn“ protestieren. In Sozial.Geschichte Online beschäftigt uns dieses Thema schon seit langer Zeit, vgl. das Dossier zu urbanen Sozialprotesten.

Heft 23

Diamantarbeiter

Jüdische Diamantarbeiter in einer Antwerpener Werkstatt (um 1930). Quelle: Rudi Van Doorslaer, Enfants du ghetto, Brüssel 1997, S. 229 (Photo Collection Musée juif de Belgique).

Heft 22

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Eine kleine Gedenkstätte erinnert an die Opfer des „Massakers von Kalawryta“, bei dem Truppen der deutschen Wehrmacht am 13. Dezember 1943 in einer „Vergeltungsaktion“ über 700 Bewohner der griechischen Stadt und der umliegenden Dörfer – allesamt Zivilisten – ermordeten und mehr als 1.000 Häuser der Gemeinden ausraubten und zerstörten.

Heft 21

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Die Fotografin Katarina Despotović hat gemeinsam mit der Soziologin Catharina Thörn den Konflikt um die Gentrifizierung des Göteborger Quartiers Kvillebäcken dokumentiert. Das Plakat vor der Brachfläche behauptet, dass „Du mit ein bisschen Phantasie die Sonne über den Dächern untergehen sehen kannst“. Die in Heft 21 abgedruckte Fotoserie findet sich hier.

Heft 20

Mahjong-Spieler in einer Kleinstadt in der Provinz Fujian, China. Das Foto entstand im Herbst 2011.

Heft 19

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Das Foto zeigt eine geschlossene und verfallene Fabrik im Zentrum Sydneys. Das Foto entstand in einer Nacht Anfang 2012.

Heft 18

Veteranen des Gwangju-Aufstands von 1980_Gwangju_2009

Protestblockade von Veteranen des Aufstands von Gwangju, Südkorea (1980). Sie sitzen vor einem Gebäude, in dem Freunde von ihnen erschossen wurden, als es während des Aufstands von Militärs gestürmt wurde. Nun soll es einem Einkaufzentrum weichen. Das Foto entstand 2009.

Heft 17

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Protestierende Textilarbeiterinnen des deutschen Unternehmens Triumph vor dem Arbeitsministerium in Manila, Philippinen, 2008.

Heft 16

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Das auf unserer Homepage abgebildete Schwarz/Weiß-Foto des Fotografen Sheldon Dick zeigt eine Momentaufnahme im berühmten Sit-down Strike der United Automobile Workers (UAW) in Flint/ Michigan in den Jahren 1936/37. Dieser Streik im Werk von General Motors, dem seinerzeit größten Autohersteller der USA, trug wesentlich zur Etablierung der erst kurz zuvor gegründeten UAW und zur landesweiten gewerkschaftlichen Organisierung der ArbeiterInnen in der Automobilindustrie bei. Das Foto des Sit-In Strike entstand im Rahmen einer Auftragsarbeit Sheldon Dicks für die U.S. Farm Security Administration, eines zur Zeit der Großen Depression eingerichteten Programms zur Bekämpfung der Armut im ländlichen Raum. Sheldon Dick (1906-1950), Verleger, Fotograf und Filmemacher und als Sproß einer Industriellenfamilie weitgehend unabhängig von staatlicher Förderung, dokumentierte in seinen Fotos nicht nur die spektakulären Ereignisse, sondern auch das alltägliche Leben der Fabrikarbeiter während des Streiks. Das Foto ist über das Online-Archiv der Library of Congress auf den Webseiten der Regierungsbehörden der Vereinigten Staaten öffentlich zugänglich. Fotos von Sheldon Dick finden sich heute auch auf der Homepage der UAW. Im Rahmen eines historisches Abrisses, der Aufschluss über das Selbstverständnis der UAW liefert, illustrieren sie dort ein Ereignis, dem die Gewerkschaft große Bedeutung zuschreibt: Sie sieht im erfolgreichen Sit-down Strike den Ursprungort des fordistischen, wohlfahrtsstaatlich regulierten Kompromisses von Kapital und Arbeit. Etwas bleibt unausgesprochen sowohl in der Neutralisierung des Fotos zum historischen Dokument wie in seiner Aneignung für die Erfolgsgeschichte einer Gewerkschaft. Aber genau dies macht die Betrachtung des Fotos zum Genuss: Im Portrait der lesenden Streikenden, die ihre Maschinen abgestellt haben, zeigt sich die Möglichkeit eines Kampfs gegen die Arbeit. Was lesen die Streikenden? Der Fotograf lässt uns das nicht wissen. Vermutlich aber konnte Sheldon Dick das Glück der Lektüre im leisen Rascheln der Blätter, beim Aufschlagen jeder neuen Seite knistern hören: weil die Maschinen still standen!

Sheldon Dicks Foto verdeutlicht ein Spannungsverhältnis, in dem sich auch Sozial.Geschichte Online bewegt: zwischen der Analyse von Formaten hegemonialer Wissensproduktion (welche oftmals allein die Chance haben, überliefert zu werden), Selbstdarstellungen von organisiertem Widerstand und noch schwer verständlichen Äußerungen von Subjektivität; zwischen Ansprüchen historischer Forschung, Geschichte objektiv zu rekonstruieren, engagierter Parteinahme für ihre Subjekte und der Öffnung der Geschichte auf Möglichkeiten hin, die bislang unverwirklicht blieben.