1968

Die Revolte der 1968er Jahre ist nunmehr schon ein halbes Jahrhundert alt. Die Erinnerung an wesentliche Ereignisse – an den „Pariser Mai“, den „heißen Herbst“ in Italien, den „Prager Frühling“ oder den Kampf gegen die Notstandsgesetze in der Bundesrepublik – bleibt gleichwohl umstritten. Viele der Debatten, die aktuell um „1968“ geführt werden, sind keineswegs neu. Das zeigt sich auch an den Schwerpunkten der Texte, die in Sozial.Geschichte bis 2009 und in Sozial.Geschichte Online seitdem erschienen sind. Im Mittelpunkt standen erstens eine Betonung der nicht eingelösten Demokratie- und Emanzipationsforderungen der Sozialproteste dieser Zeit, zweitens der Hinweis auf ihren umfassenden, globalen Charakter, und drittens eine Bezugnahme auf das „andere 1968“, also auf Forderungen und Aktionen, die sich nicht einfach auf die „Studentenbewegung“ reduzieren lassen.

Der Reihe nach: (1.) In der historiographischen Debatte vor zehn Jahren wurde häufig der abgeschlossene Charakter der in den letzten Jahren der 1960er angestoßenen sozialen und kulturellen Gesellschaftsveränderungen betont. Insbesondere „1968“ galt als – in die „langen 1960er Jahre“ eingeordnetes – wichtiges Moment einer grundlegenden Liberalisierung und Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Eine demgegenüber kritische Positionierung fand sich bereits in der alten „Papierausgabe“ der Zeitschrift (Birke 2007). In der Onlineausgabe regte die damalige Redaktion dann erfolgreich eine Debatte zu dieser Frage an, in der Detlef Siegfried (2/2010), Arndt Neumann (3/2010) und Hanno Balz (5/2011) mit konträren Perspektiven beitrugen. In der aktuellen Debatte reproduziert sich die Kontroverse, wobei sich bereits 2010 Äußerungen Raum verschafften, die „1968“ nicht als „Liberalisierung“, sondern als zivilisatorischen Rückschritt dämonisierten, eine Auffassung, die leider nicht zuletzt von ehemaligen Linken wie Götz Aly oder Liberalen wie Wolfgang Kraushaar vorgetragen wurde (vgl. die Rezension von Oy in 12/2013, außerhalb der Zeitschrift neuerdings Strohschneider 2018).

(2.) Die Frage nach dem globalen Charakter der Revolte stand im Mittelpunkt von Forschungsarbeiten, die im Kontext der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online und ihres damaligen Trägers, der Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, entwickelt wurden. Bemerkenswert sind hier nicht zuletzt die außerhalb der Zeitschrift publizierten Arbeiten von Angelika Ebbinghaus zu „1968“ in Osteuropa (2008a) und im globalen Maßstab (2008b), ebenso die Initiativen, die neben Ebbinghaus von Max Henninger und Marcel van der Linden (2008) im Rahmen der „Linzer Konferenz“ der Historiker_innen der Arbeiter_innenbewegung ausgingen. Das globale „1968“ ist seitdem zum Thema vieler Historiker_innen geworden, als aktuelles Beispiel mag an dieser Stelle lediglich das von Gerd Rainer Horn redigierte, in französischer und englischer Sprache erschienene Dossier der Universität SciencesPo (2018) genannt werden, das die studentischen Bewegungen dieser Zeit unter Berücksichtigung von unter anderem Mexiko, Tunesien und dem Senegal analysiert. Die Perspektive auf das globale „1968“ ist dabei von der unter anderem durch Marcel van der Linden repräsentierten Globalgeschichte / Globalen Arbeitsgeschichte nicht zu trennen: Das Werk van der Lindens verweist auf den Entstehungszusammenhang dieses Felds in den politischen und sozialen Bewegungen der 1968er Jahre, in der Reflexion der antikolonialen Kämpfe, in den Impulsen der Kämpfe gegen den Krieg in Vietnam und dem Kampf gegen die rechten Diktaturen in Lateinamerika. Hierzu finden sich Beiträge von Karl Heinz Roth, David Meyer und anderen im „Sonderheft“ zum Werk Marcel van der Lindens (9/2012) von Sozial.Geschichte Online.

Und schließlich erscheint (3.) aktuell auch die Debatte um das „andere 1968“ in einem neuen Licht, nachdem eher linksliberale Autor_innen sich den Begriff aneignen und ein „1968“ sehen, das wir „zu männlich und zu politisch“ begreifen würden (so aktuell etwa Christina von Hodenberg). Während die Politik entsorgt wird, ist die Bezugnahme auf die neue Frauenbewegung allerdings wenig neu. Auch sie wurde bereits vor zehn Jahren (und anderswo lange davor) systematisch thematisiert, etwa von Gisela Notz (6/2011) und außerhalb der Zeitschrift von unserer damaligen Redakteurin Kristina Schulz (in Birke et al. 2009). Weitere „andere 1968er-Geschichten“ wurden zudem in den vergangenen zehn Jahren ebenfalls in Sozial.Geschichte Online aufgearbeitet: So rekonstruierte Freia Anders (8/2012) die Bedeutung der Revolte für den Bereich der kritischen Rechtswissenschaft und der Kritik an der Justiz. Sehr prominent erschien darüber hinaus der Beitrag von Sylvia Wagner (19/2016) zur Kritik der Heimerziehung, die nicht im Zentrum der 1968er Bewegung stand, aber dennoch eines ihrer dynamischen Momente war.

In der langen Tradition der Zeitschrift (mit Vorgängern wie Autonomie. Neue Folge oder der Zeitschrift 1999) liegt schließlich (4.) die Beschäftigung mit dem „proletarischen Mai“, das heißt mit Arbeitskämpfen und den vielfältigen Formen der Unruhen am Arbeitsplatz. Ein wichtiges Teilkapitel dieser Geschichte ist die Lehrlingsbewegung, die David Templin (10/2013) für die Stadt Hamburg detailliert rekonstruiert hat. Darüber hinaus haben sich Autor_innen der Sozial.Geschichte Online auf eine Analyse der Betriebslinken / oppositionellen Gewerkschaften sowie der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfe bezogen (Suter, 6/2011, vgl. auch Gehrke/Horn 2018). Anschließend an Überlegungen zur systematischen Analyse alltäglicher Protestformen, die in diesem Kontext ebenso bedeutend ist wie die Bezugnahme auf die sozialen Felder „jenseits der Fabrik“, finden sich schließlich einige eher an einer systematischen Begriffsbildung interessierte Texte: mit Bezug auf die Theorien Rancières etwa die Beiträge von Mario Becksteiner (19/2016) und Micha Suter (5/2011), mit Bezug auf die Genealogie der Proteste der „1968er“ jenseits der Zentren der Großstädte die an Seidmans Arbeiten zum Pariser Mai (Seidman 2004) und die Aufarbeitung globaler Protestereignisse anschließenden Überlegungen von Peter Birke (6/2011).

Diese Rezeption schließt an zwei Debattenstränge an, die (nur) auf den ersten Blick vor allem gegenwartsbezogen sind: Erstens die erneuerte Rezeption der Arbeiten von Henri Lefebvre (die im Paris der 1968er Jahre einen wichtigen Bezugspunkt haben), vor allem im Rahmen der Recht-auf-Stadt-Bewegung seit 2009, zweitens die Debatten über Krisen-Proteste, wie sie sehr systematisch von Karl Heinz Roth aufgegriffen wurden, hier aber vor allem anschließend an Erkenntnisse zum „arabischen Frühling“ und an die Rezeption von Asef Bayats „Life as Politics“ (Bayat 2010; vgl. Birke/Henninger 2011).

Die Kontroversen um die Bedeutung der 1968er-Proteste sind wohl kaum zu Ende. In Sozial.Geschichte ähneln sie eher einem langen Gespräch, in dem vor allem die in der bürgerlichen Öffentlichkeit wenig beachteten “Helden“ dieser Jahre zu Wort kommen: Als letztes Beispiel dieses langen Gespräches mag insofern das Zeitzeugeninterview mit Wolfgang Hien gelten, einem Autor der Zeitschrift und langjährigen Aktivisten der Arbeiter_innen-Linken und der Gesundheitsbewegung, das im Frühsommer dieses Jahres im VSA-Verlag erschienen ist (Hien/Birke 2018).

 

Literatur außerhalb der Zeitschrift:

Asef Bayat, Life as Politics: How Ordinary People Change the Middle East. Stanford 2010.

Peter Birke, Die Protestbewegungen und die „kulturelle Revolution“ der 1960er Jahre in der bundesdeutschen Historiographie: Montage und Virtualität, in: Sozial.Geschichte, 2 (2007), S. 5–24.

Peter Birke / Bernd Hüttner / Gottfried Oy (Hg.), Alte Linke – neue Linke. Die 1968er Jahre im europäischen Vergleich, Berlin 2008.

Peter Birke / Max Henninger (Hg.), Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online, Berlin / Hamburg 2011.

Angelika Ebbinghaus, Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa: Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008.

Angelika Ebbinghaus, Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, Wien 2008.

Angelika Ebbinghaus / Marcel van der Linden / Max Henninger (Hg.), 1968. Ein Blick auf die Protestbewegung 40 Jahre danach aus globaler Perspektive, Wien 2009.

Bernd Gehrke / Gerd Rainer Horn, 1968 und die Arbeiter, Hamburg 2018.

Wolfgang Hien / Peter Birke, Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. Eine andere 1968er Geschichte, Hamburg 2018.

Michael Seidman, The Imaginary Revolution: Parisian Students and Workers in 1968, New York 2004.