Streiks

Um die Jahre 2010/2011 mehrten sich die Artikel über Streiks und Arbeitsproteste in der Sozial.Geschichte Online, nicht zuletzt zurückzuführen auf die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und die unmittelbar folgende Eurokrise 2009. Viele stellten sich daraufhin die Frage, ob sich damit nicht auch ein neues Protestpotential der Arbeitenden entwickeln würde. Diese Vermutungen bestätigten sich. Es gab Streiks, in Ländern, die in besonderer Weise von der Krise betroffen waren, aber auch in denjenigen, denen es vermeintlich gelungen war, die Probleme unbeschadet zu umschiffen. Denn was sich in Griechenland, Spanien oder Portugal in Generalstreiks und Massenprotesten gegen die Sparmaßnahmen der Troika entlud, war in vielen europäischen Ländern schon weit vor der Krise als Wandel in der Arbeitswelt sichtbar und zum Problem geworden: eine stetige Prekarisierung weiter Gesellschaftsteile. Diese Entwicklung versuchte Sozial.Geschichte Online durch verschiedene Artikel abzubilden und zu diskutieren.

So machte Peter Birke in seinem Artikel „Macht und Ohnmacht des Korporatismus. Eine Skizze zu den aktuellen Arbeitskämpfen in Deutschland“ 2011 (SGO 5/2011) deutlich, dass sich im Kontext der Veränderung von Arbeits- und Lebensverhältnissen Streiks in der Bundesrepublik – wenn auch weitaus weniger sichtbar als in Griechenland oder Spanien – schon vor 2009 ereigneten. Grund waren die Vielzahl an befristeten und unsicheren Arbeitsplätzen, informelle und prekäre Beschäftigung und eine allgemeine „Einkommenspolarisierung“, die sich, wie Birke beobachtet, auf dem „kleinräumigen Territorium“ der Stadt zeigte. Streikende waren nicht zuletzt auch Migrantinnen, prekär Beschäftigte oder Frauen im Dienstleistungsbereich, die vom Wandel der Arbeitswelt und der Arbeitsmarktpolitik im Besonderen betroffen waren.

In ihrem Artikel „Acht Monate Arbeitskampf beim Verpackungshersteller Neupack“ (12/2013) beschreibt die Gruppe Blauer Montag die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Prekarisierung im Betrieb entwickelten. Die hohe Fluktuation der Arbeitenden durch befristete Arbeitsverträge, aber auch niedrige Löhne und hohe Arbeitsbelastungen machten organisatorische Arbeit schwierig. Hinzu kam eine Differenz zwischen einer „Kernbelegschaft“, die gewerkschaftlich organisiert, ihre Privilegien verteidigte, und der beschriebenen „Randbelegschaft“, die sich nur schwer organisieren ließ. Die Gruppe schlägt diesbezüglich vor, neue Bündnisse, über den Betrieb hinweg und mit Initiativen außerhalb des Betriebs, zu schließen und Forderungen aufzustellen, die auf die prekären Beschäftigungsverhältnisse abzielen, wie existenzsichernde Mindestlöhne, Entfristung oder bessere Arbeitsbedingungen.

Auch die Gruppe The Free Association, die in ihrem Beitrag „Let England Shake“ (8/2012) einen Blick auf die Proteste von britischen Studierenden und Arbeiterinnen und Arbeitern zwischen 2010 und 2011 wirft, adressiert diesbezüglich Strategien für einen sichtbaren und wirkungsvollen Protest. So müssten die verschiedenen Formen der Kämpfe gebündelt werden. Unter dem Eindruck der weltweiten Occupy-Bewegung schlagen sie vor, Räume zu besetzen und hier einen Ort der (Ver)Bindung zu schaffen sowie politische Organisationen zu gründen, die das Auf und Ab der Protestwellen überdauerten und die realen Probleme der Menschen in den Blick nehmen.

Anhand des Artikels von Kristin Carls über die Entwicklungen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsmarktpolitik in Italien (8/2012) lässt sich nachverfolgen, wie eine Regierung im Strudel der Finanzmarktkrise – mit Staatsverschuldung durch Spekulation auf Staatsanleihen, steigender Arbeitslosigkeit und einer entsprechenden Sparpolitik und Einführung von Kurzarbeit und befristeter Beschäftigung – den strukturellen Wandel des Arbeitsmarktes herbeiführte. Da die zwischen 2011 und 2013 amtierende Regierung Mario Montis auf die Prekarisierung größerer Teile der Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Reform der Sozialversicherung und der Einführung eines allgemeinen Arbeitslosengeldes reagierte, konnten die italienischen Gewerkschaftsdachverbände damals weitgehend eingebunden und befriedet werden. Das minderte allerdings nicht den Protest in den Betrieben und bei den Basisgewerkschaften, wie Carls durch Beispiele aus der Ölindustrie und aus Streiks unter Angestellten der Nachtzüge zeigt. Doch auch hier fanden die Akteure in den gewählten Protestformen nicht die geeignete Form, um dem Verhandlungspartner gegenübertreten und ihn in die Knie zwingen zu können. Ähnlich wie es die Gruppe The Free Association beschreibt, wurden auch in Italien Protestformen etabliert, wie „Blockade von Güter-, Menschen- und Informationsströmen“ und „alltägliche Formen der Arbeitsverweigerung“, um gegenüber den Arbeitgebern und der Regierung wirkungsvoll zu werden.

Wie Arbeitsproteste erfolgreich sein können, zeigt der Artikel von Anna Curcio über die Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter in der italienischen Logistikbranche (13/2014). Ihnen gelang mit Hilfe einer strategisch günstigen Position im Produktionsprozess – eine wichtige Machtressource, worauf schon Erik Olin Wright und Beverly Silver hinwiesen – die Blockade bedeutender Knotenpunkte der globalvernetzten Logistik, wodurch transnational agierenden Unternehmen wie IKEA enorme Verluste entstanden. Der Artikel zeigt aber auch, wie es trotz dieser so günstigen Position nicht leicht war, die Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenzubringen und den Herausforderungen, wie Angst vor Arbeitsplatzverlust und der auf rassistischen Ressentiments fußenden Spaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter, zu begegnen.

Auch der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter in Poznan-Sady, einem Logistikzentrum Amazons in Polen (18/2016) belegt, dass Logistikzentren die Achillesferse des globalen Kapitals sind. Das von Ralf Ruckus untersuchte westpolnische Logistikzentrum wurde im Herbst 2014 eröffnet und beliefert seitdem vor allem den bundesdeutschen Markt. Es wurde eingerichtet, um Lieferverzögerungen zu verhindern und damit die Arbeitskämpfe bei Amazon in Deutschland zu unterlaufen. Ruckus stellt dar, wie mit Unterstützung der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP, Arbeiterinitiative) Spaltungslinien der Arbeiterinnen und Arbeiter überwunden und der Betriebsablauf gestört werden konnte. So führten Unterschriftenlisten, Flugblätter und ein wilder Bummelstreik zu Lohnerhöhungen. Ruckus erwähnt dabei auch die Bedeutsamkeit grenzübergreifender Zusammenkünfte der Arbeiterinnen und Arbeitern in einem transnationalen Unternehmen wie Amazon.

Da Sozial.Geschichte Online stets darum bemüht war und ist, neben europäischen Entwicklungen auch außereuropäische Ereignisse und Arbeitsproteste nachzuzeichnen sowie die Dinge global zu denken und den transnationalen Verbindungen dieser Proteste Raum zu geben – sie folgt hier der Global Labour History [siehe dazu auch die Tagungsberichte von Torsten Bewernitz zu Strikes and Social Conflicts in the 20th Century (6/2011) und Isabella Weber zu „Streik!?“ – Annäherungen an den globalen Bedeutungswandel von Arbeitskämpfen (12/2013) –, war die Redaktion besonders um Beiträge über außereuropäische Entwicklungen bemüht.

Beispiele dafür sind der von Ian Bekker und Lucien van der Walt bei der Zeitschrift publizierte Artikel über die Massenstreiks im öffentlichen Dienst in Johannesburg (4/2010) und der Beitrag von Jörg Nowak über die Massenstreiks im Bausektor Brasiliens. Trotz unterschiedlicher historischer Kontexte sowie verschiedener Ausgangspunkte und Entwicklungen der Proteste, sind einige Parallelen – auch mit den europäischen Protesten – verblüffend. Häufig sind die Versuche der nationalen Regierungen, auf die Finanzmarktkrise mit Austeritätsmaßnahmen zu reagieren, Ausgangspunkt der Proteste, wie auch der Auslöser der Streiks in Südafrika 2010, bei denen etwa 1,3 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter des Dienstleistungssektors protestierten, um mit Lohnerhöhungen unter anderem ihre steigenden Elektrizitätskosten, die der südafrikanische Staat zu verantworten hatte, zu finanzieren.

Da besonders oft prekär beschäftigt, sind es vor allem Migrantinnen und Migranten, die sich durch Streiks Gehör verschaffen. Zu Protesten mit zerstörerischem Ausmaß kam es zwischen 2011 und 2014 im Bausektor Brasiliens, wo Bauarbeiter aufgrund ihrer miserablen Unterkünfte und Transportmöglichkeiten ihre Unterbringungen und Busse anzündeten. Durch die hohe Mobilität der Arbeitenden, aber auch die Vernetzung über soziale Medien, verbreiteten sich die Streiks über das gesamte Land und erreichten nicht nur die Verbesserung ihrer Wohn- und Lebenssituation, sondern auch Lohnerhöhungen über der Inflationsrate. Nowaks Analyse folgt der Dynamik einer Bewegung, die, wie andere Protestbewegungen in Brasilien auch, gezeigt hat, dass die seit über zehn Jahren (mit-)regierende Arbeiterpartei (PT) ihren politischen Kredit verspielt hat und nicht mehr in der Lage ist, die Folgen der inländischen und weltweiten Krise abzufedern, ohne sozialen Widerstand zu provozieren.

Ein besonderes Augenmerk schenkte die Redaktion in den vergangenen Jahren den Entwicklungen der Arbeitsproteste in China. Dazu zählten – ähnlich wie im Beispiel Brasiliens – Streiks im Bausektor, bei denen aus Verzweiflung über ihre prekäre Arbeits- und Lebenssituation Bauarbeiter zu Äxten griffen, um Einrichtungen zu zerstören, oder mit Selbstmord drohten, um ihre Löhne einzufordern. Die Zeitschrift konnte dank eines Beitrags von Wang Kan die erste größere Streikwelle in der Automobilindustrie 2010 dokumentieren und versuchte, die Ereignisse in eine breitere Debatte über die Formierung einer chinesischen Arbeiterklasse und -bewegung einzubetten. In einem eigenen Dossier haben wir die einzelnen Beiträge über China bereits ausführlicher dargestellt und fassen sie an dieser Stelle nur noch einmal zusammen: