Das neue Heft von Sozial.Geschichte Online ist erschienen und kann hier kostenlos heruntergeladen werden. Im Editorial stellen wir unsere Gedanken und einige offene Fragen zum andauernden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zur Diskussion und freuen uns über Beiträge hierzu. Die Rubrik Forschung beinhaltet den zweiten und dritten von insgesamt drei Teilen des Forschungsbeitrags unseres Redakteurs Hartmut Rübner über die Geschichte der Gestapo. In unserer neu eingeführten Rubrik Dokument veröffentlichen wir ein Sitzungsprotokoll der Pariser Kommune, das Anouk Colombani in ihrem (zuerst in der Theoriezeitschrift Les Utopiques erschienenen) Artikel genauer in den Blick nimmt. In der Rubrik Diskussion setzt sich Gerhard Hanloser mit dem Buch von Klaus Holz und Thomas Haury Antisemitismus gegen Israel auseinander. Das neue Heft enthält zudem weitere interessante Rezensionen, unter anderem von Wolfgang Hien über den von Mark Richter und anderen herausgegebenen Sammelband Spuren der Arbeit. Zum Editorial bitte
Editorial in Kriegszeiten: Viele offene Fragen
Während der Arbeiten am nun vorliegenden Heft 32 der Sozial.Geschichte Online hielt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit unverminderter Heftigkeit an; ein Ende ist nicht absehbar. Wir haben auf dieses Ereignis schnell, aber auch mit einer großen Ohnmacht und Ratlosigkeit reagiert. In ersten Blogbeiträgen haben wir auf die Bedeutung der Unterstützung von Geflüchteten und Kriegsdienstverweigerern aller Seiten verwiesen. Später unterstützten wir mit dem „Manifest gegen den Krieg“ eine in mehrere Sprachen übersetzte Stellungnahme, die vor allem auf die kritische und gefährliche geopolitische Situation verweist, die der Krieg offenlegt und verschärft.
Während das „Manifest“ trotz der beinahe 1.000 Unterschriften, die in einer Reihe europäischer Länder gesammelt wurden, in der allgemeinen Öffentlichkeit eine Marginalie geblieben ist, sind viele der dort aufgeworfenen Fragen weiterhin unbearbeitet – Fragen, die einer systematischen Analyse und einer gründlichen, sachlichen Debatte bedürfen (etwas, was auch und gerade in der politischen Linken der Bundesrepublik aktuell noch mehr als zuvor zu einer raren „Kunst“ geworden ist). Denn uns allen ist klar, dass ein „Manifest“ alleine nicht ausreicht. Auch uns trifft die Kritik, trotz einiger Bemühungen, in den vergangenen Jahren sehr wenig Wissen über die sozialen und politischen Verhältnisse in Osteuropa erworben, produziert und verbreitet zu haben. Vor allem angesichts der sozialen Kämpfe der letzten Jahre dies- und jenseits des Maidan – von spontanen Arbeitskämpfen bis hin zu sozialen Unruhen, die eine verallgemeinerte Form angenommen haben –, ist dies eine der ersten Voraussetzungen, um die aktuelle militärische Zuspitzung wirklich einordnen zu können.
Blinde Flecke entstehen aber auch mehr und mehr in Bezug auf die Zukunft der sozialen Konflikte hierzulande: Die Austeritätspolitik bei gleichzeitiger massiver Aufrüstung wird, so unsere Vermutung, starke soziale Verwerfungen erzeugen, die das, was wir diesbezüglich bereits in der Pandemie erlebt haben, in den Schatten stellen könnten. Auch zu dieser zweiten Frage wünschen wir uns eine erweiterte, gründliche Diskussion, und wir geben gerne zu, dass wir in dieser Hinsicht oft genauso ratlos sind wie in Bezug auf die Frage nach der Situation in den kriegsführenden Staaten.
Mit großer Sorge schließlich sehen wir eine Entwicklung, die das ganz enge Spektrum dessen betrifft, was unsere Zeitschrift seit Jahren als einen ihrer Schwerpunkte ansieht: Diese Entwicklung fing an mit der Behauptung von der besonderen Dramatik des „ersten Kriegs in Europa seit 1945“ – womit nicht nur andere Kriege in aller Welt in ihrer ebenso großen Brutalität in den Schatten gerückt wurden, sondern auch gleich eine ganze Reihe von Staaten, Kriegen und Erinnerungen aus dem Gedächtnis und aus „Europa“ verschwanden. Es folgten implizite NS-Vergleiche (so die Rede vom „Vernichtungskrieg“) und sogar Umkehrungen, was die Verantwortlichkeit für den zweiten Weltkrieg betrifft.
Unsere dritte wichtige Frage lautet deshalb, wie der aktuelle Geschichtsrevisionismus zu beurteilen ist und wie ihm begegnet werden kann. Da wir anfangen, wo wir stehen, geht es uns dabei selbstverständlich zunächst um den Revisionismus „at home“, wobei die neuen Nationalismen in aller Welt, Russland und die Ukraine eingeschlossen, bei uns ebenso große Befürchtungen auslösen. Selbstverständlich heißt dies alles nicht, dass es nicht noch viel mehr Fragen gibt – über Beiträge zur Diskussion sind wir mehr als dankbar!
Aber nun zu den Inhalten des aktuellen Hefts: Nachdem Hartmut Rübner im ersten, in Heft 31 erschienenen Teil seines Forschungsbeitrags, „Das Vollzugsorgan des nationalsozialistischen Polizeisystems. Zur Geschichte der Gestapo“, die Entstehung und Konsolidierung der Gestapo dargestellt hat, thematisiert er im zweiten Teil, wie sie sich mit Kriegsbeginn die ideologische Radikalisierung und die Verfolgungspraxis der Staatspolizei unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes fortsetzte. Er stellt dabei die Praxis der Verfolgung, des Terrors und der Vernichtung, die die Gestapo ausübte, in ihrer ganzen Reichweite dar. Zudem zeichnet er im Detail die juridischen und institutionellen Kompetenzverschiebungen nach, die dazu führten, dass der Gestapo in der Geschichte der Massenvernichtung und des Vernichtungskriegs eine zentrale Rolle zukam.
Im dritten und abschließenden Teil des Forschungsbeitrags „Das Vollzugsorgan des nationalsozialistischen Polizeisystems. Zur Geschichte der Gestapo“ geht Rübner auf den Verbleib des Gestapo-Personals nach dem Krieg ein: „Ahndung – Rehabilitation – Reintegration“. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde die Gestapo zwar als „verbrecherische Organisation“ eingestuft, doch die meisten ihrer überlebenden Angehörigen gelangten nach ihrer alliierten Internierung in Freiheit oder entgingen gänzlich einer Bestrafung. Erst im Zuge der justiziellen Aufarbeitung wurde das ganze Ausmaß ihrer Verbrechen sichtbar. Dabei fielen die Verfolgungskonjunkturen in den drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches unterschiedlich aus. Nach einer ersten Phase, in der die Täter in größerem Umfang zur Rechenschaft gezogen wurden, nahm seit Anfang der 1950er Jahre die Verfolgungsintensität rapide ab. Auf diese Weise gelang es vielen Angehörigen der Gestapo, sich erfolgreich in die Nachkriegsgesellschaften zu integrieren. Die allermeisten Verbrechen der Gestapo blieben indes ungesühnt.
In unserer – mit diesem Heft neu eingeführten – Rubrik „Dokument“ stellen wir ein wichtiges Dokument der Pariser Kommune vor. Anouk Colombani wirft in ihrem – zuerst auf Französisch in der Theoriezeitschrift Les Utopiques des linken französischen Gewerkschaftsdachverbandes Union syndicale Solidaires erschienenen – Text „Die Arbeit regulieren? Debatten um die Bäckergesellen“ ein Licht auf die Kontroversen der Kommunarden und Kommunardinnen über die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäckergesellen von Paris. Gegenstand der Analyse ist das Protokoll einer Sitzung der Pariser Kommune, die am 28. April 1871 stattfand. Colombani sieht in der damals geführten Diskussion den Anfang einer Frage, die die sozialistische Bewegung bis heute beschäftigt. Weit davon entfernt, ein bloß noch historisches Interesse zu wecken, wird hier ein bis heute ungelöstes Problem der Arbeiter*innenbewegung aufgeworfen: Soll sie zur Verbesserung ihrer Lage auf den Staat als Institution zurückgreifen oder soll sie ihre Ziele ausschließlich in der direkten Auseinandersetzung mit ihren Chefs und den Unternehmern durchsetzen?
In der Rubrik „Diskussion“ setzt sich sodann Gerhard Hanloser in einem Rezensionsessay, „Das glückliche Bewusstsein der neuen deutschen Antisemitismuskritik“, mit dem Buch von Klaus Holz und Thomas Haury Antisemitismus gegen Israel (Hamburg 2021) auseinander. Gegen eine identitätspolitische Verengung der Antisemitismuskritik als, so Hanloser, „glückliches Bewusstsein“ einer linken, privilegierten „Happy Few“ sowie gegen ihre Inanspruchnahme als staatstragendem Imperativ, plädiert der Autor im Sinne der Kritischen Theorie für eine wissenschaftliche Analyse des Antisemitismus, die unabdingbar mit Gesellschaftskritik verknüpft ist, mit einer theoretisch fundierten Kritik anderer Elemente der Beherrschung, Unterordnung, Diskriminierung, Normierung und Ausbeutung. Hanloser positioniert sich in seinem Essay gegen eine Tendenz, Antisemitismus als eine Art neuen „Hauptwiderspruch“ zu postulieren. Er sieht hier eine ironische Wendung der Geschichte, zumal es gerade die Kritik am antiimperialistischen Weltbild war, die zu einer Abkehr vom schematischen Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen führte.
Wie immer enthält die Sozial.Geschichte Online eine Reihe interessanter Buchbesprechungen. Wolfgang Hien rezensiert den von Mark Richter und anderen herausgegebenen Sammelband Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand. Hendrik Heetlage widmet dem von Pepijn Brandon, Peyman Jafari und Stefan Müller herausgegebenen Band Worlds of Labour turned upside down. Revolutions and Labour Relations in Global Historical Perspective eine eingehende Besprechung. Manuel Lautenbacher beschäftigt sich mit dem unter Herausgeberschaft von James Mark, Artemy M. Kalinovsky und Steffi Marung erschienenen Band Alternative Globalizations. Eastern Europe and the Postcolonial World. Thomas Sablowski bespricht Dietmar Langes Aufstand in der Fabrik. Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei FIAT-Mirafiori 1962 bis 1973. Thomas Gräfe stellt Paul W. Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus vor, und Bettina Hoeltje bespricht Leidenschaftlich analytisch, einen Band mit Texten zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse der 2019 verstorbenen Sophinette Becker.
Auch an dieser Stelle möchten wir schließlich Karl Heinz Roth zu seinem 80. Geburtstag von ganzem Herzen gratulieren! Sein Engagement und seine solidarische Verbundenheit als Mitbegründer und Autor unserer Zeitschrift, als gesellschaftskritischer Historiker und Aktivist sowie als Freund waren und bleiben uns Ansporn und Inspiration für einen klaren Blick und das weitere gemeinsame Kämpfen um emanzipatorische Alternativen. Mit einem voraussichtlich im frühen Herbst erscheinenden Sonderheft wollen wir Karlo und seine Arbeit würdigen.
Aber bevor es so weit ist: Viel Erkenntnisgewinn beim Lesen unseres neuen Hefts wünscht
die Redaktion