von Sylvia Wagner
Es überraschte sehr, welch ein Echo der Beitrag in Heft 19 der Sozial.Geschichte Online „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“ in den Medien, den Wissenschaften, der Politik und der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. In den Jahren zuvor war bereits die physische, psychische und sexuelle Gewalt in den Einrichtungen bekannt geworden. Es war ruhiger um das Thema der ehemaligen Heimkinder geworden, bis mein Artikel über die medikamentöse Gewalt durch Arzneimittelstudien an ihnen diese breite Aufmerksamkeit erzeugte.
Im Kern geht es darin um circa fünfzig bis dahin ermittelte Studien, hauptsächlich mit Impfstoffen gegen Poliomyelitis, Psychopharmaka und triebdämpfenden Präparaten. Vor allem der NDR in Schleswig-Holstein und der WDR berichteten mehrfach in Funk und Fernsehen darüber (siehe die Verweise am Ende des Textes). Bei den Printmedien gab es Berichte in Lokalzeitungen bis hin zu bundesweiten Magazinen. Unzählige Anfragen erreichten die Sender und Redaktionen. Ich selbst erhielt Anfragen auf verschiedenen Wegen, auch über die Redaktion der Sozial.Geschichte Online. Meistens meldeten sich ehemalige Heimkinder, die über ihre Erfahrungen mit Medikamenten im Heim berichteten oder die wissen wollten, ob sie an den Versuchen hatten teilnehmen müssen. Einige von ihnen waren erleichtert, dass ihnen nun endlich geglaubt wurde, denn sie hatten zum Teil schon seit Jahren die Vermutung geäußert, dass man Versuche mit Medikamenten an ihnen durchgeführt hatte.
In der Politik zeigten sich verschiedene Landtage, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Hessen, betroffen und kündigten schnell eine umfassende Aufarbeitung an. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erklärte man, dass die betroffenen ehemaligen Heimkinder entschädigt würden. Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ würde jedem ehemaligen Heimkind, das in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung oder in einer Behinderteneinrichtung untergebracht war, pauschal 9.000 Euro zusprechen. Diese Leistung war jedoch schon vor Bekanntwerden der Arzneimittelstudien beschlossen worden. Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ wurde nach jahrelangen Protesten gegründet, da Personen aus kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen sowie den Behinderteneinrichtungen aus dem ursprünglichen Heimkinderfonds ausgeschlossen waren.
Mit 9.000 Euro beziehen sie nun 1.000 Euro weniger Leistungen als ehemalige Heimkinder aus anderen Einrichtungen, und sie erhalten auch weniger Rentenersatzleistungen für Arbeit, die in der Heimzeit erbracht wurde. In diesen geringeren Beträgen sollen nun auch Leistungen für die Teilnahme an Arzneimittelstudien enthalten sein. Ehemalige Heimkinder aus „normalen“ Heimen wiederum werden im Zusammenhang mit Arzneimittelstudien und Leistungen nicht erwähnt. Es ist außerdem nicht klar, wer betroffen ist. Die Nachweise über die Untersuchungen bilden hauptsächlich Publikationen der Studienergebnisse, aus denen in den meisten Fällen die Namen der Einrichtungen und die Anzahl der „Versuchspersonen“ hervorgehen, aber nicht die Namen der Versuchsteilnehmer/-innen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Betroffenen Nachweise erbringen können, dass sie persönlich an einer Versuchsreihe teilgenommen haben.
Für die Aufarbeitung des Themas hat der Landschaftsverband Rheinland (LVR) angekündigt, für zwei Jahre 100.000 Euro (pro Jahr 50.000 Euro) bereitstellen zu wollen. Der LVR ist durch die Untersuchung eines Neuroleptikums in einer eigenen Einrichtung, der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen-Süchteln sowie als Aufsichtsbehörde weiterer Einrichtungen, in denen Medikamente getestet wurden, involviert. Der LVR will die Vergabe von Psychopharmaka sowie die Arzneimittelstudien exemplarisch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln aufarbeiten lassen.
Im Hessischen Landtag hat im März 2017 eine Anhörung zum Thema stattgefunden. Einige Einrichtungen haben angekündigt, selbst eine Aufarbeitung durch unabhängige Wissenschaftler/-innen in Auftrag geben zu wollen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass das tatsächliche Ausmaß der durchgeführten Versuche deutlich größer ist als die im Aufsatz erwähnten fünfzig Studien. Dies hat sich unter anderem auch schon durch Recherchen von Journalisten des NDR bestätigt, die weitere Studien aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig nachweisen konnten. Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, die aber bisher noch nicht hinreichend beantwortet werden kann, ist die, warum man sich am „Runden Tisch Heimerziehung“ nicht mit dem Thema befasst hat.
Nach mehreren Jahrzehnten ist es sicherlich schwierig, ein vollständiges Bild der Versuche nachzuzeichnen, aber der Aufsatz in Sozial.Geschichte Online hat einen Anstoß dazu gegeben, dass dieses Thema Beachtung in Politik und Geschichtsforschung findet.
Hier findet sich eine Auswahl von Medienbeiträgen über Medikamentenversuche an Heimkindern, die nach der Veröffentlichung des Artikels in Sozial.Geschichte Online erschienen sind:
NDR: Medikamentenstudien mit Schleswiger Heimkindern
WDR: Medikamentenversuche an Heimkindern auch in NRW
ARD: Medikamentenversuche an Heimkindern
ZDF: Medikamentenversuche an Heimkindern
Frankfurter Rundschau: Medikamententests in Hessen. Landtag geht Arzneitests nach
Spiegel: Medikamententests in Deutschland. Das lange Leiden nach dem Kinderheim
TAZ: „Impfstoffversuche an Säuglingen“
FAZ: Medikamentenversuche. Auf der Spur von H 502
Die Welt: Arzneimittelstudien. Wie Heimkinder jahrzehntelang zu Versuchskaninchen wurden
Eckernförder Zeitung: Medikamentenversuche. Heimkinder als Versuchskaninchen
Westdeutsche Zeitung: Skandal um Arzneitests an Heimkindern
WAZ: Schreikrampf und gelähmte Zunge. Pharmatests an Heimkindern
Humanistischer Pressedienst: Heimkinder als Versuchskaninchen
Frankfurter Rundschau: Medikamententests in Hessen. Test an Kindern in Frankfurt