Die neue Nummer unserer Zeitschrift ist als PDF auf DuEPublico erschienen.
Das Heft enthält u. a. einen Forschungsüberblick von Hartmut Rübner über den „Kampf gegen die Attentäter und Verschwörer. Anarchismus in den ‚Terror Studies'“, einen Beitrag von Peter Birke, Florian Hohenstatt und Moritz Rinn über „Gentrifizierung, Aktivismus, ‚Rollenspiele‘. Erfahrungen am Hamburger Stadtrand“ und einen Aufsatz von Wolfgang Hien über „Die Asbestkatastrophe. Geschichte und Gegenwart einer Berufskrankheit“.
Editorial
Bevor wir die Beiträge zur sechzehnten Ausgabe der Sozial.Geschichte Online vorstellen, einige Worte zu Veränderungen in der Produktion der Zeitschrift. Seit über einem Jahr befinden sich Redaktion und Herausgabe der Sozial.Geschichte Online in einem Umbauprozess, der nun fast abgeschlossen ist. Seit Januar 2015 wird die Sozial.Geschichte Online vom neu gegründeten Verein für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts e.V. herausgegeben, der Forschung und Bildung auf dem Gebiet der Sozialgeschichte wissenschaftlich und praktisch fördern will. Neben der Herausgabe der Sozial.Geschichte Online soll der Verein unter anderem Veranstaltungen zu sozialgeschichtlichen Themen organisieren und so den historischen Diskurs aktiv und kritisch mitgestalten. Mitglied des Vereins können alle werden, die sich den Zielen des Vereins und der Zeitschrift verbunden fühlen.
Die Redaktion der Sozial.Geschichte Online besteht derzeit aus dreizehn Mitgliedern, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und aktivistischen Zusammenhängen kommen. Sie sieht ihre Aufgabe darin, einen sozialgeschichtlichen Beitrag zur Analyse der aktuellen Probleme der Weltgesellschaft zu leisten, und wendet sich vor allem an Zeitgenoss_innen, die politisch und emanzipatorisch aktiv sind oder werden wollen und denen bewusst ist, dass sie die komplexe Gegenwart nur aus einer historischen Perspektive verstehen können. Wir, die Redakteur_innen, wünschen uns eine Zeitschrift, die analysiert, interpretiert und Reaktionen auslöst – und wir erhoffen uns einen angeregten Austausch aller Beteiligten, Autor_innen wie Leser_innen. Deshalb haben wir eine neue Mailingliste eingerichtet.
Die inhaltliche Arbeit an den Texten für die Sozial.Geschichte Online wird weiterhin von allen Beteiligten – auch der Redaktion – unentgeltlich gemacht, aber wir wollen einige der technischen und organisatorischen Arbeiten bezahlen. Bisher lief das über Stiftungsgelder, in Zukunft müssen wir andere Quellen anzapfen. Wer die Sozial.Geschichte Online finanziell unterstützen möchte, mehr über den Verein wissen oder sich an der Mailingliste beteiligen will, findet die entsprechenden Informationen auf der neuen Webseite. In Zukunft werden wir dort auch aktuelle Texte veröffentlichen: [https://sozialgeschichteonline.wordpress.com].
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Kommen wir zu den Beiträgen im vorliegenden Heft. Hartmut Rübner zeichnet in Kampf gegen die Attentäter und Verschwörer. Anarchismus in den „Terrorist Studies“ – ein Forschungsüberblick kenntnisreich und engagiert nach, wie der Anarchismus – als eigenständiger Forschungsgegenstand zunehmend vernachlässigt – in den aktuell boomenden „Terrorist Studies“ zu einem äußerst fragwürdigen Vergleichsstück verkommen ist. Aktuellen Bemühungen, al-Qaida und andere gewalttätige islamistische Gruppierungen anhand von Vergleichen mit dem Anarchismus des 19. Jahrhunderts zu verstehen, liegt allzu oft ein problematisches, durch den Fokus auf „Terror“ bedingtes Verständnis vom Charakter jenes Kosmos theoretischer und praktischer Ansätze zugrunde, für den Namen wie Bakunin, Kropotkin oder Most stehen. Im wohlfeilen Rekurs auf das problematische Bild vom bombenkundigen Attentäter werden Vielschichtigkeit und Breite des Anarchismus als sozialer Bewegung verkannt.
Der Aufsatz von Peter Birke, Florian Hohenstatt und Moritz Rinn Gentrifizierung, Aktivismus und „Rollenspiele“. Erfahrungen am Hamburger Stadtrand geht dem Verhältnis – oder besser: einigen möglichen Verhältnissen – von wissenschaftlicher Forschung und politischem Aktivismus nach und konkretisiert die damit verbundenen Probleme anhand von Erfahrungen mit Protesten gegen die Gentrifizierung des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg. Ein zentrales Thema ist dabei die Aufgabe, sich weder in der Forschungs noch in der politischen Praxis mit einen Sprechen über oder einem Handeln für die von gesellschaftlichen Entwicklungen wie Gentrifizierung betroffenen Menschen zu begnügen, sondern vielmehr deren eigenes Sprechen und Handeln zu befördern und für dessen gesellschaftliche Wahrnehmung zu sorgen.
Ein – wie wir finden – sehr gelungenes Beispiel für die Verbindung von politischem Engagement und wissenschaftlicher Arbeit bietet auch der Text Die Asbestkatastrophe. Geschichte und Gegenwart einer Berufskrankheit, um den Wolfgang Hien in diesem Heft die Reihe seiner früheren Aufsätze und Rezensionen zu gesundheitshistorischen und gesundheitspolitischen Themen erweitert. Hiens Darstellung der asbestbedingten Berufskrankheiten und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen wirft ein Licht auf die anhaltenden Defizite des Arbeitsschutzes in den Industriegesellschaften und verweist auf die Notwendigkeit einer radikalen, die Produktionsweise als Ganzes in den Blick nehmenden Kritik.
Die Rezensionen beginnen mit Peter Birkes Besprechung des Buches Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung (Bielefeld 2013) von Oliver Marchart. Marchart schildert zunächst die Diskurse und Theorien zu Prekarisierung, um dann die Euromayday-Kampagne gegen Prekarisierung und insbesondere deren Mediennutzung darzustellen. Ralf Ruckus folgt in seiner ersten Rezension den Erzählungslinien des Buches Chinas Kapitalismus – Entstehung, Verlauf, Paradoxien von Tobias ten Brink (Frankfurt a. M. / New York 2013), einer interessanten – wenn auch lückenhaften und in ihren politischen Schlussfolgerungen schwachen – Darstellung der kapitalistischen Modernisierung Chinas von den 1970er Jahren bis 2010, und bespricht in seiner zweiten Rezension Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien. Eine militante Untersuchung von Juan Pablo Hudson (Wien 2014), eine spannende Schilderung der Widersprüche, die sich in den seit Anfang der 2000er Jahre besetzten und in Eigenregie betriebenen Betrieben Argentiniens entwickelt haben. Axel Weipert hat sich Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940) von Rolf Hoffrogge angeschaut. Hoffrogge nennt den KPD-Politker Werner Scholem „einen Besiegten der Geschichte“ und verortet ihn zwischen allen Stühlen – „argwöhnisch beäugt von orthodoxen Kommunisten, Bürgerlichen und Zionisten gleichermaßen, dann ermordet von den Nationalsozialisten und schließlich lange Zeit vergessen“. Jan Bönkost rezensiert den Sammelband History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, herausgegeben vom AutorInnenkollektiv Loukanikos, der Beiträge kritischer WissenschaftlerInnen und politischer AktivistInnen zu linker Geschichtspolitik enthält. Drei dieser Beiträge – von David Mayer, Susanne Götze und Gottfried Oy / Christoph Schneider – sind bereits in Heft 14 / 2014 der Sozial.Geschichte Online dokumentiert. Den Schluss bilden drei Rezensionen von Bernd Hüttner. Das Buch Sammeln, erschließen, vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv, von Gudrun Fiedler, Susanne Rappe-Weber und Detlef Siegfried herausgegeben, bietet laut Hüttner „zum einen Impressionen über die Landschaft der freien Archive zu den Jugend- und den (neuen) sozialen Bewegungen und enthält zum anderen einige Denkanstöße über deren Situation und Perspektiven“. Philipp Felschs Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990 schildert die Entwicklung des Merve-Verlages und vor allem die Rolle seiner beiden HauptprotagonistInnen Peter Gente und Heidi Paris. Das Buch Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz wurde von Brigitta Bernet und Jakob Tanner herausgegeben und versammelt Beiträge, in denen die Geschichte der Arbeit und der Arbeitsbeziehungen in der Schweiz vom beginnenden 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts untersucht werden, auch jene, „die außerhalb oder gar weit jenseits des klassischen Betriebes des Fordismus stehen.“
Auf Bitte der Veranstalter_innen dokumentieren wir am Ende des
Heftes die Einladung zum Ersten Internationalen Willi-Münzenberg-Kongress, der vom 17. bis 20. September 2015 in Berlin stattfinden wird.
Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Die Redaktion (August 2015)