Heft 36 ist erschienen

Das neue Heft von Sozial.Geschichte Online ist erschienen und steht auf dem Publikationsserver der Universität Duisburg-Essen zum kostenlosen Download bereit. Den Auftakt macht Gisela Notz mit ihrem Artikel über die Anfänge und ersten Organisationsformen der proletarischen Frauenbewegung. Anschließend nimmt Wulf D. Hund eine rassismusanalytische Lektüre des Kapitals von Karl Marx vor. Unser Redakteur Hartmut Rübner setzt im zweiten Teil seines Artikels die Bestandsaufnahme neuerer Untersuchungen der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus fort. Joachim Bons untersucht am Beispiel der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) den Aufbau rechter Betriebsgruppen und sensibilisiert für die Gefahr, die von solchen Versuchen in der Gegenwart ausgeht.

In der Rubrik Zeitgeschehen veröffentlichen wir Ahlrich Meyers historischen Kommentar zur Erschießung deutscher Gefangener durch französische Partisanen während des Zweiten Weltkriegs. In seinem Rezensionsessay begibt sich Simon Freise auf die Suche nach einer linken historisch-islamwissenschaftlichen Perspektive auf den säkularen Diskurs. Das neue Heft enthält auch wieder eine Reihe interessanter Buchbesprechungen, unter anderem von Kena Stüwe über das Buch von Jule Ehms, Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933, und von Felix Wemheuer über die zwei jüngst erschienenen Bücher unseres Autors Ralf Ruckus, The Communist Road to Capitalism. How Unrest and Containment have pushed China’s (R)evolution since 1949 und Die Linke in China. Eine Einführung. Leider haben wir auch neue Beiträge in unserer Rubrik Nachruf zu verzeichnen: Unser Redakteur Lars Stubbe erinnert an Adolfo Atilio Gilly Malvagni (1928–2023) und unser Autor Sergio Bologna an Mario Tronti (1931–2023).

E D I T O R I A L

Der brutale Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat uns erschüttert. Die Reaktionen der israelischen Regierung versetzen uns in Sorge. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gilt den Angehörigen der Opfer und den notleidenden Menschen auf beiden Seiten. Die Tragik der Ereignisse und die damit verbundene Verzweiflung und Ratlosigkeit sollten nicht in Sprachlosigkeit münden. Um die aktuellen Ereignisse und die Situation zu verstehen, braucht es historisches Wissen über die komplexe Geschichte der Gründung Israels und der palästinensischen Aspirationen auf einen eigenen Nationalstaat. Dass der neue Krieg in Israel / Palästina auch unmittelbar Auswirkungen in Deutschland hat, zeigt sich an den antisemitischen Angriffen gegen Synagogen und die Kennzeichnung von Wohnungen mit dem Davidstern, aber auch an dem auf der Straße offen zur Schau getragenen Antisemitismus. Der Kampf gegen diesen Antisemitismus darf jedoch nicht zu einer antimuslimischen, rassistischen Stigmatisierung jeglichen Wunsches, Empathie mit den palästinensischen Zivilopfern zum Ausdruck zu bringen, führen.

Auch die vielen anderen Kriege und Krisen, der erstarkende Faschismus oder die verschärfte Repression gegen Geflüchtete und das forcierte Vorantreiben ihrer Entrechtung quer durch alle parteipolitischen Lager hierzulande lassen nichts Gutes erahnen. In solch finsteren Zeiten zeigt sich einmal mehr die Relevanz und Bedeutung einer Geschichtsschreibung, die sich darum bemüht, „den historisch-kritischen Blick auf Herrschaftsverhältnisse mit der Frage nach den geschichtlichen Bedingungen für soziale Veränderungen“ zu verbinden. In diesem Sinne rufen wir nach wie vor zu Beiträgen auf, die durch den historischen Blick sowohl ein vertieftes Verständnis aktueller Kriege und Krisen ermöglichen, als auch Erfahrungswerte emanzipatorischer Bewegungen aus den Trümmern der Niederlagen der Vergangenheit hervorholen – nicht zuletzt, um daraus zu lernen und auch Hoffnung zu schöpfen.

Die Beiträge in diesem Heft
Mehrere Beiträge der aktuellen Ausgabe der Sozial.Geschichte Online zeugen davon, dass Forschung zu gewerkschaftlichen und proletarischen Bewegungen weiterhin ein relevantes Feld für die Geschichtsschreibung ist. So widmet sich der erste Beitrag der Geschichte der Frauenbewegungen, zu der es mittlerweile zwar eine Fülle an Material und Erzählungen gibt, deren Fokus in der Regel aber auf den bürgerlichen Frauenbewegungen liegt. Unsere Autorin Gisela Notz beleuchtet in ihrem Artikel hingegen die Anfänge und ersten Organisationsformen der proletarischen Frauenbewegung vor dem Hintergrund der damaligen Arbeits- und Lebensbedingungen von Industriearbeiterinnen, Heimarbeiterinnen und Dienstbotinnen. Die Kämpfe, Erfolge und Niederlagen der proletarischen Frauenbewegung verdeutlichen, dass ihre Trägerinnen von Beginn an eine intersektionale Perspektive verfolgten. Aus ihren Erfahrungen leiteten sie schließlich die Notwendigkeit einer internationalen Ausrichtung ab.

Im anschließenden Beitrag nimmt Wulf D. Hund eine rassismusanalytische Lektüre des Kapitals von Karl Marx vor – jenseits der Kontroverse, Marx habe entweder bereits grundlegende Einsichten in die Funktionsweise des Rassismus formuliert, oder er habe das Thema Rassismus ignoriert und selbst ein rassistisches Weltbild vertreten. Ausgehend von der Kontextualisierung dieser konträren Positionen und der Grundannahme, dass sich Marx nie analytisch mit dem Thema Rassismus auseinandergesetzt hat, arbeitet unser Autor stattdessen jene Anknüpfungspunkte heraus, die Marx’ Kapitalismuskritik für eine historisch-materialistische Rassismustheorie liefern kann, um Rassismus nicht nur als Ideologie, sondern auch als soziales Verhältnis zu verstehen. Er geht dabei zunächst auf eine vernachlässigte Marxsche Anweisung für den Umgang mit dessen Hauptwerk ein und zeigt auf, dass die Schlusskapitel des ersten Kapital-Bandes aus rassismusanalytischer Perspektive zentrale Lesehinweise für dessen Anfangskapitel liefern.

Unser Redakteur Hartmut Rübner setzt im zweiten Teil seines Artikels die Bestandsaufnahme neuerer Untersuchungen der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus fort. Nachdem er im ersten Teil vor allem von der Totalitarismustheorie und der Sozialfaschismus-Doktrin geprägte Forschungsergebnisse sowie Analysen der KPD-Basis und des links-proletarischen Milieus diskutierte, stehen Forschungen zu den KPD-internen Entwicklungen und Fraktionierungen sowie zum kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime im Mittelpunkt des zweiten Teils. Trotz des ungebrochenen Forschungsinteresses und der proklamierten Pluralisierung der methodischen Ansätze bleiben innerhalb dieses Feldes enorme Erkenntnisdefizite bestehen. Obwohl das kommunistische Spektrum viele Nebenströmungen und Abspaltungen umfasst, wird es doch meist auf die KPD reduziert – ein Bild, das Hartmut Rübners Beitrag korrigiert.

Die im Zusammenhang mit den Betriebsratswahlen 2022 zu beobachtenden Versuche rechtsextremer Kandidaten, mehr politischen Einfluss in den Belegschaften und Betrieben zu gewinnen, stellt Joachim Bons an den Anfang seines Artikels über die Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO). Diese (wenn auch bislang begrenzt erfolgreichen) Vorstöße spalten die Belegschaften und gefährden die Solidarität und den Zusammenhalt. In Anbetracht des Wähler*innenpotentials für die AfD unter Arbeiter*innen und auch unter Betriebsräten und Gewerkschaftsmitgliedern fordert unser Autor dazu auf, einen Blick zurück auf den verheerenden historischen Versuch der völkischen deutschen Rechten zu werfen, die Betriebe für die „Volksgemeinschaft“ zu erobern. Ohne dabei vorschnelle Analogien zu ziehen: Parallelen sind jedenfalls erkennbar.

In unserer Rubrik Zeitgeschehen veröffentlichen wir Ahlrich Meyers historischen Kommentar zur Erschießung deutscher Gefangener durch französische Partisanen während des Zweiten Weltkriegs. Anlass hierzu gab die Stellungnahme eines 98-jährigen ehemaligen Angehörigen der französischen Widerstandsbewegung, der im Mai 2023 öffentlich von einer Erschießung deutscher Gefangener durch seine Partisaneneinheit im Juni 1944 berichtete, an der er auch beteiligt war. Unser Autor fasst die Aussagen Edmond Réveils sowie das internationale Medienecho zusammen und ordnet das Ereignis in den Kontext der deutschen Kriegsverbrechen in Frankreich ein, über deren Ausmaß bis heute in Deutschland nur selten gesprochen wird.

In seinem Rezensionsessay begibt sich Simon Freise auf die Suche nach einer linken historisch-islamwissenschaftliche Perspektive auf den säkularen Diskurs. Anlässlich der (Wieder-)Veröffentlichung von Beiträgen des Nahost-Historikers Alexander Flores diskutiert unser Autor exemplarische Befunde zu Vormoderne und (Post-)Kolonialismus. Ausgehend von den anti-essentialistischen Beiträgen Flores’ zur Säkularismus-Debatte erinnert Simon Freise an den marxistischen Orientalisten Maxime Rodinson, geht der Frage nach dem oft vernachlässigten sozialgeschichtlichen Kontext sozioreligiöser Entwicklungen während der sogenannten Blütezeit des Islams unter abbasidischer Herrschaft nach und skizziert die Säkularisierung und Säkularismus-Debatte im (post-)kolonialen Ägypten am Anfang und gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Seinen Beitrag beendet er mit methodologischen Überlegungen zum Säkularen als Tertium Comparationis des historischen Vergleichs aus marxistischer Perspektive.

Eine Reihe anregender Buchbesprechungen schließen sich an. Marcel Bois rezensiert Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961–1989 des Historikers Detlef Siegfried, der sich selbst Anfang der 1980er Jahre – aus der Bundesrepublik einreisend – ein Jahr lang an der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ in „Marxismus-Leninismus“ ausbilden ließ. Der Spagat zwischen seiner Sprechposition als Zeitzeuge und als Historiker gelinge Siegfried vorbildlich – kritisch würdige er die Hochschule als Ort des internationalen Austauschs. David Mayer stellt den von Quinn Slobodian und Dieter Plehwe herausgegebenen Sammelband Market Civilizations: Neoliberals East and South vor, der den Versuch dokumentiere, die Forschungen zum Neoliberalismus methodologisch zu erweitern. Kena Stüwe bespricht das Buch von Jule Ehms, Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933, und bescheinigt ihm eine hohe Aktualität. Die Verfasserin arbeite deutlich heraus, dass linksrevolutionäre Gruppen wie die FAUD in der Weimarer Republik keineswegs nur eine marginale Erscheinungen waren und ihre Konzepte eine ernsthafte Alternative zum parlamentarisch-kapitalistischen System der Zwischenkriegszeit darstellten – und dies auch heute noch sein könnten. Abschließend diskutiert Felix Wemheuer die zwei jüngst erschienenen Bücher unseres Autors Ralf Ruckus, The Communist Road to Capitalism. How Unrest and Containment have pushed China’s (R)evolution since 1949 und Die Linke in China. Eine Einführung, die sowohl ein tieferes Verständnis der historischen und gegenwärtigen Verhältnisse in China ermöglichen als auch in die Chinadiskussionen der englisch- und deutschsprachigen Linken intervenieren. Die deutsche Ausgabe von The Communist Road to Capitalism erscheint 2024 im Karl Dietz Verlag Berlin.

Leider haben wir auch neue Beiträge in unserer Rubrik Nachruf zu verzeichnen. Am 4. Juli 2023 starb Adolfo Atilio Gilly Malvagni in Mexiko-Stadt. Der in Europa wohl vornehmlich unter Lateinameri­kawissenschaftler*innen bekannte Historiker trug mit seinem Werk wesentlich zu einer kritischen Historiographie der mexikanischen Revolution bei. Unser Redakteur Lars Stubbe erinnert in einem Nachruf an den militanten Intellektuellen und Chronisten der mexikanischen Revolution.

Am 7. August 2023 ist Mario Tronti im Alter von 92 Jahren gestorben. Er war eine der Hauptfiguren des italienischen Operaismus, dessen Grundgedanken er in seinen Artikeln für die Zeitschrift Quaderni Rossi (1961–1963) und vor allem in dem Buch Operai e capitale (1966) formuliert hat. Unser Autor Sergio Bologna zeichnet die politische Entwicklung seines ehemaligen Genossen und Freundes nach und würdigt seinen Beitrag für den Operaismus, der in den autonomen Kämpfen der Arbeiterinnenklasse lebendig bleibt.

Schließlich starb in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 2023 Antonio Negri im Alter von 90 Jahren in Paris. Er war ein weiterer „Vater“ des Operaismus. Nach frühen gemeinsamen Anfängen mit Tronti, gründete er 1969 Potere Operaio („Arbeitermacht“), die die Frage der Militanz in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auch praktisch erörterte. Als Philosophiedozent, der bereits im Alter von 33 Jahren eine Professur an der Universität Padua innehatte, war er neben Tronti eine der wesentlichen intellektuellen Figuren des Operaismus und blieb in den postoperaistischen Bewegungen nach Jahren des Knastes und des Exils der „cattivo maestro“, indem er zusammen mit Michael Hardt die Trilogie Empire, Multitude und Commonwealth veröffentlichte, die ab den 2000er Jahren weltweit auf Resonanz in der antisystemischen Bewegung stieß. In den Worten der Genoss*innen unserer befreundeten Zeitschrift Officina Primo Maggio ausgedrückt: „Außergewöhnlich, praktisch einzig in seiner Art war seine Obsession für die Revolution, er schien von diesem Dämon geradezu besessen, für ihn stellte er eine Lebenskraft dar. Eine Kraft, die diejenigen, deren Leben von der Persönlichkeit Toni Negris gezeichnet waren, mitgerissen hat, im Guten wie im Schlechten.“ In einer der nächsten Ausgaben der SGO erscheint ein ausführlicherer Nachruf.

Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht

die Redaktion