Beverly Silver verwies in ihrer Historiographie der Arbeitsunruhen im 20. Jahrhundert auf die Notwendigkeit, ein systematisiertes Verständnis für die aggregierte Bedeutung lokaler Arbeitskonflikte zu entwickeln, um die Dynamik von historischen Klassenbeziehungen überhaupt zu begreifen: Im Kern geht es ihr dabei nicht zentral um Klassenstrukturen, sondern um die Untersuchung einer stets erneuerten Klassenbildung, dabei verweisend auf eine Interpretation des Marx‘schen (und Polanyi’schen) Werks hin zu einem historischen und relationalen Klassenbegriff. Sie schlägt auf dieser Grundlage einen Begriff der „Arbeitsunruhen“ (labor unrest) vor, der organisierte, dokumentierte kollektive Aktionen von Arbeiter_innen bezeichnet, sei es am Arbeitsplatz, sei es im Rahmen von Arbeiter_innenbewegungen im öffentlichen Raum. Wilde Streiks sind mithin mitten in einem Kräftefeld verortet, das ein sehr breites Spektrum zwischen „unsichtbarer“ alltäglicher Devianz im Arbeitshandeln am einen und (öffentlich) „sichtbaren“ beziehungsweise „medialisierten“ Massenaktionen am anderen Pol beschreibt. Genau dieses Spannungsfeld spielt in der sich seit einigen Jahren, nicht zuletzt im Zuge der Rezeption der Geschichte der „proletarischen“ 1968er entwickelnden historischen Aufarbeitung wilder Streiks eine wichtige Rolle. Die Septemberstreiks – die aktuell ihren 50. Geburtstag feiern – sind dafür eines von mehreren Beispielen.
Wie also sind latente und offene betriebliche Sozialproteste jeweils spezifisch miteinander verbunden? Und darüber hinaus, wie konnten sich wiederum diese „offenen“ Sozialproteste miteinander vernetzen, wenn sie über kein organisatorisch entwickeltes und institutionell gesichertes Dach verfügten? Für die Analyse der Streiks im September 1969 sind beide Fragen bedeutend. Diese Arbeitskämpfe brachten eine Vielzahl von Forderungen hervor, besonders aber „egalitäre“ Lohnforderungen, sie fanden innerhalb des mit einer Friedenspflicht belegten Zeitraums insbesondere in der Montanindustrie statt, mit Schwerpunkten im Ruhrgebiet und im Saarland. Rund 200.000 Beschäftigte beteiligten sich, etwa acht Millionen erhielten daraufhin „kampflos“ Verbesserungen bei den Löhnen, die in vielen Fällen weit über das hinausgingen, was bei regulären Tarifverhandlungen erreicht werden konnte. Andere Forderungen – die vor allem im Kohlebergbau vielfältig waren und von der Entlassung autoritärer Vorgesetzter bis hin zu Verbesserungen beim Schutz vor Arbeitsunfällen reichten – blieben jedoch außerhalb dessen, was erreicht werden konnte.
Die Septemberstreiks wurden häufig als eine Art „Schock“ für die etablierten Träger der industriellen Beziehungen und des „deutschen“ Modells der Sozialpartnerschaft beschrieben. Tatsächlich täuscht diese Sicht darüber hinweg, dass dieses Modell bereits in den Jahren vor 1969 als porös zu bezeichnen ist. Vor 1966 hatte sich im Boom ein System betrieblicher Zusatzleistungen etabliert. Dieses hatte gerade in Bereichen wie der Stahlindustrie oder auf den Werften, in der einige Beschäftigtengruppen über lange Zeit über eine hohe Autonomie im Arbeitsprozess selbst und damit über eine hohe Verhandlungsmacht gegenüber der Betriebshierarchie verfügten, ein erhebliches Ausmaß erreicht: In der Stahlindustrie konnten die Löhne in einigen Facharbeitergruppen real bis zu 60 Prozent über dem formellen Tariflohn liegen. In der Rezession von 1966/67 versuchten die Unternehmen dann, diese Leistungen „zurückzudrehen“, etwas, was formal zwar zulässig war, aber im betrieblichen Alltagshandeln durchgesetzt werden musste: Wilde Streiks richteten sich in den zwei Jahren nach 1966 vor allem gegen das Rollback der „übertariflichen“ Leistungen.
Der Anteil der wilden Streiks an den Streikbewegungen insgesamt stieg bis 1969 statistisch gesehen ständig. 1969 lag er im Organisationsbereich der IG Metall bei deutlich über 90 Prozent. Dass die wilden Streiks Einzelereignisse waren, spontan, vorher nie dagewesen, hinterher nie wiederholt, kann also bereits aus dieser Sicht stark in Zweifel gezogen werden. Für die Gewerkschaften waren die wilden Streiks von 1969 hinsichtlich ihres Ausmaßes und ihrer Vehemenz gleichwohl ein „Schock“, der Umgang mit der Lücke zwischen zentraler Repräsentation von Arbeiter_inneninteressen und lokaler Arbeitspolitik war jedoch keineswegs neu. Ein Element dieser Lücke war vielmehr die Tatsache, dass Tarifpolitik im ökonomischen Boom der 1950er bis 1970er Jahre eine Tendenz zur Zentralisierung beinhaltete, zu bundesweiten Vereinbarungen zwischen den Verbänden wie etwa in der Arbeitszeitpolitik, zur allgemeinen Übernahme von „Pilotabkommen“ wie in der Metallindustrie oder zu bundesweiten Verträgen wie im öffentlichen Dienst. Mit dem Frankfurter Abkommen der Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektroindustrie erreichte diese Zentralisierungstendenz kurz vor den Septemberstreiks einen weiteren Höhepunkt.
Verstärkt wurden solche Tendenzen (die heute ins Gegenteil verkehrt sind, ohne dass die lokalen Arbeitskämpfe an Bedeutung verloren hätten) durch den Umstand, dass die lokale Arbeitspolitik in der Bundesrepublik durch Betriebsräte oder Personalräte geprägt wird, Instanzen, die formal nicht-gewerkschaftlich sind und die kein Recht haben, zu Arbeitskämpfen aufzurufen (sogenanntes duales System der industriellen Beziehungen). Und zugespitzt wurde dieses Problem schließlich in der Politik der Konzertierten Aktion, die die Vorstellung bespielte, ökonomische Rahmendaten seien im Sinne einer keynesianischen Wirtschaftspolitik staatlich regulier- und steuerbar, was praktisch hieß, dass nicht zuletzt die Arbeitsmarktparteien Lohnpolitik nicht auf der Grundlage von Alltagsinteressen zu machen hatten, sondern auf Grundlage einer „wissenschaftlichen“ Lohnpolitik, die die Margen errechnete, die „objektiv“ für eine Erhöhung der Löhne bei Nichtgefährdung anderer ökonomischer Ziele „zur Verfügung stehen“.
Die Septemberstreiks stehen für eine Erosion einer durch den Staat regulierten, aber autoritären Betriebs- und Arbeitspolitik, von dessen sozial-staatlicher Dimension auch viele Linke noch heute träumen, die aber damals nicht unbegründet als arbeiter_innenfeindlich und als entmündigend galt. Die Streiks markierten den Anfang vom Ende der auch in der SPD zu dieser Zeit durchaus verbreiteten Vorstellung, man könne soziale Konflikte quasi durch eine Verwissenschaftlichung der Politik und ihrer Apparate regulieren. Die Septemberstreiks schlossen an einen transnationalen Zyklus unabhängiger, anderer Arbeiter_innenkämpfe an, an den „Pariser Mai“, an den „heißen Herbst“ in Italien, an zahllose weitere Kämpfe. Sie markierten den Anfang eines Zyklus von Streiks, die das Spektrum der Themen auf den Kampf gegen „Frauenlöhne“ (Pierburg, 1973) oder rassistische Benachteiligung (Ford, 1973) erweiterten.
Sozial.Geschichte Online erinnert an die Septemberstreiks mit einem Dossier zu Arbeit und Arbeitskämpfen (folgt).
Aktuelle Veröffentlichungen zum Weiterlesen:
Jan Ole Arps, Zu wenig Geld und keine kühlen Getränke, in: analyse & kritik
Peter Birke, Demokratisierung von Erinnerungskultur – Der Septemberstreik 1969 bei Hoesch