Das neue Heft der Sozial.Geschichte Online ist auf den Seiten von DuEPublico als PDF erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Die Printausgabe von Heft 25 wird demnächst erscheinen. Das aktuelle Heft enthält Forschungsbeiträge von Peter Birke und Felix Bluhm über die neue Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit sowie von Thomas Gräfe zum Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, einen Beitrag Achim Brunnengräbers über die deutsche Automobilindustrie im Strukturwandel zur E-Mobilität, ein Interview mit Willi Hajek über die Gilets jaunes / Gelbwesten, einen Rezessionsessay von Ahlrich Meyer, „Wie Hannah Arendt versuchte, Karl Marx beizukommen“ anlässlich des Erscheinens der Arendt-Gesamtausgabe“, sowie zahlreiche Buchbesprechungen.
Editorial
Die größte Herausforderung für Zeitschriftenmacher*innen liegt darin, den Spagat zwischen wissenschaftlich anerkannter Arbeit und der eigenen kritischen Position zu schaffen. Das betonten jedenfalls Karl Heinz Roth und Angelika Ebbinghaus auf der Feier zum zehnjährigen Jubiläum unserer Zeitschrift im März dieses Jahres in Berlin. Dabei sei es wichtig, mutig, innovativ und provokativ zu sein, historische und aktuelle Themen nicht nur kritisch zu bearbeiten, sondern auch auf eine Weise zu verknüpfen, dass sich daraus eine gesellschaftliche Diskussion entwickeln könne. Auch im aktuellen Heft haben wir uns bemüht, diesem sehr schwer einzulösenden Anspruch gerecht zu werden. Stärker als in den vorhergehenden Ausgaben der Zeitschrift wenden wir uns wieder gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikten und Kämpfen zu.
Ein solches Thema ist das sich wandelnde Verhältnis zwischen Migration und Arbeit: Seit dem Sommer der Migration 2015 kam es sowohl zur weitgehenden Schließung der europäischen Außengrenzen als auch zu einer verschärften Verknüpfung von Migration, Ankommen und Verwertung / Ausbeutung. Bereits drei Artikel sind bei Sozial.Geschichte Online / Offline zu diesem Themenkomplex erschienen: der Aufsatz der Gruppe Blauer Montag zu „‚Flüchtlingskrise‘ und autoritärer Integration“, die Analyse der Basisdemokratischen Linken Göttingen „Arbeit um jeden Preis“ sowie zuletzt ein Beitrag von Lisa Carstensen, Lisa-Marie Heimeshoff und Lisa Riedner zu „Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Migration“, der sich systematisch mit dem Zwang zur Arbeit in unterschiedlichen Migrationsregimen beschäftigt. Der in diesem Heft zu lesende Artikel von Peter Birke und Felix Bluhm setzt diese Serie fort. Er verfolgt eine auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklung – die Öffnung des Arbeitsmarktes für einige Gruppen, die Schließung der Grenzen für andere Gruppen von Migrant*innen – bis auf die Ebene der betrieblichen Verwertung von Arbeitskraft. Argumentiert wird, dass Öffnung und Schließung weniger als Gegensätze, sondern eher als sich gegenseitig bedingend zu verstehen sind, mit der Folge der Ausbeutung von neuen Migrant*innen im Niedriglohnsektor. Der Beitrag basiert auf einer umfassenden empirischen Untersuchung in der Fleischindustrie im Oldenburger Münsterland (Niedersachsen). Die Autoren plädieren dafür, den dort seit einiger Zeit aufkommenden Widerstand von Arbeitenden gegen lange Arbeitszeiten, ungesunde Arbeitsbedingungen und niedrigen Lohn sowohl als Teil der Kämpfe der Migration als auch als Teil der Arbeitskämpfe im Allgemeinen zu begreifen.
Der zweite Forschungsbeitrag in diesem Heft betrachtet ein aktuelles Thema in historischer Perspektive. Thomas Gräfe geht in seinem Beitrag „Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Stereotypenmuster, Aktionsformen und die aktuelle Relevanz eines ‚klassischen‘ Forschungsgegenstandes“ den Wurzeln des modernen Antisemitismus nach. Ziel des Beitrags ist es, Ähnlichkeiten und Unterschiede des „neuen“ Antisemitismus mit den Praktiken des Antisemitismus im 19. Jahrhundert zu identifizieren. Gräfe zeigt, wie stark einem klassischen historischen Forschungsgegenstand wie „Antisemitismus im deutschen Kaiserreich“ heute noch lebensweltliche Relevanz zukommt.
In der Rubrik Zeitgeschehen mischt sich Achim Brunnengräber mit seinem kritischen Beitrag zur Elektromobilität in Deutschland „Unter Strom. Die deutsche Automobilindustrie im Strukturwandel zur E-Mobilität“ in die nun auch angesichts der „Fridays for Future“ überall geführte Diskussion rund um den Klimawandel ein. Diese Debatte zeichnet sich hierzulande unter anderem dadurch aus, dass zwar über das globale Phänomen des Klimawandels viel gesprochen wird, bei Lösungsvorschlägen aber die eigenen nationalen Interessen nach wie vor im Vordergrund stehen. Paradigmatisch hierfür steht der politische Fokus auf die Umstrukturierung der bundesdeutschen Automobilindustrie auf Elektrofahrzeuge, die das Ziel verfolgt, weltweit konkurrenzfähig zu bleiben. Brunnengräber zeigt, dass die angestrebte Entwicklung zwar der bundesdeutschen beziehungsweise der europäischen Bevölkerung eine bessere Luft zum Atmen verspricht, gleichzeitig aber der Abbau der Ressourcen, die etwa bei der Herstellung von Batterien benötigt werden, große ökologische und soziale Folgekosten im globalen Süden verursacht. Global gesehen, erscheint damit die Umstellung auf Elektromobilität fragwürdig. So sind beispielsweise in den Förderregionen der seltenen Metalle, die für die Batterieherstellung benötigt werden, Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen und kriegerische Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Außerdem kommt es durch die Förderung zu schweren Schäden in Ökosystemen. Das grüne und nachhaltige Image des E-Autos steht insofern im Widerspruch zur Forderung nach einer globalen Klimagerechtigkeit.
Ebenfalls in unserer Rubrik Zeitgeschehen findet sich ein Interview mit dem Gewerkschaftsaktivisten Willi Hajek zur vielschichtigen Bewegung der Gilets Jaunes in Frankreich. Hajek reflektiert die Ursachen und Entstehungsbedingungen der Bewegung und bezieht diese auf Protestbewegungen, die bereits vor der Entstehung der „Gelbwesten“ in Frankreich aktiv waren, wie etwa die Demonstrationen gegen das neue Arbeitsgesetz 2016, Streiks in den Krankenhäusern 2018 oder die Eisenbahnstreiks im gleichen Jahr. Aufgrund des teilweise widersprüchlichen Charakters der Gilets Jaunes plädiert Hajek dafür, sich in die Konflikte einzubringen, insbesondere durch die Unterstützung der Selbstorganisation und des Kampfes für mehr lokale Demokratie. Aus Sicht der Redaktion ist es wichtig, nicht nur die „Gelbwesten“, sondern auch andere, lokal verankerte und dezentrierte Revolten in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihren Möglichkeiten besser zu verstehen. Die Debatte über die Gilets Jaunes soll in Heft 26 dieser Zeitschrift fortgesetzt werden, auch im Hinblick auf die historische Vergleichbarkeit von Momenten dieser Revolte. Beiträge zu diesem Thema sind von unserer Seite ausdrücklich erwünscht.
In seinem Rezensionsessay „Wie Hannah Arendt versuchte, Karl Marx beizukommen“ beschäftigt sich Ahlrich Meyer mit dem jüngst erschienen Band 6 der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts, herausgegeben von Barbara Hahn und James McFarland. Unter dem Titel The Modern Challenge to Tradition enthält der zweisprachige Band Aufsätze und unveröffentlichte Vortragsmanuskripte aus den Jahren 1952 bis 1954. Sie geben Einblick in die Entwicklung des Denkens von Arendt zwischen ihren beiden Hauptwerken The Origins of Totalitarianism (1951) und The Human Condition (1958). Im Mittelpunkt steht eine Auseinandersetzung mit Karl Marx, die Arendt ursprünglich zur Ergänzung ihrer Totalitarismus-Studien begonnen hatte und die sie zu einer eingehenden Beschäftigung mit der Tradition der europäischen Philosophie ausweitete. Dem Werk von Marx wird sie allerdings kaum gerecht, da sie es auf wenige Kernsätze reduziert. Ihre Missdeutungen lassen sich exemplarisch am Begriff der Arbeit nachweisen. Was Marx als „Stoffwechsel“ zwischen Mensch und Natur beschrieben hatte, gerät bei Arendt zur idealtypischen Figur des „animal laborans“. Dagegen erinnert Ahlrich Meyer in seinem Essay an die kritischen Elemente im Marxschen Arbeitsbegriff.
Im Rezensionteil der Zeitschrift werden auch diesmal wieder eine Fülle von Texten besprochen: von der Reflexion über das Leben und Wirken von Rosa Luxemburg über die Geschichte der Unterstützung für im Ausland inhaftierte NS-Täter aus der BRD, von der „Deutschen Arbeit“ bis hin zu einer weiteren kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung.
Wir danken allen Beitragenden herzlichst für ihre Mitarbeit. Sozial.Geschichte Online / Offline würde ohne die umfangreiche ehrenamtliche Arbeit auch über die Beiträge unserer Autor_innen hinaus nicht existieren. Wir freuen uns über Unterstützung jeglicher Art, auch durch Abonnements, Mitgliedschaften im Trägerverein der Zeitschrift oder Spenden. Wie bereits die letzten drei Ausgaben, kann auch die vorliegende Zeitschrift wieder in einer Papierversion erworben werden. Das Heft kann per Mail bei der Redaktion bestellt werden (sgo [at] janus-projekte.de); eine Liste der Buchhandlungen, in denen die Zeitschrift erworben werden kann, findet sich auf unserem Blog.
Viel Erkenntnisgewinn beim Lesen wünscht
die Redaktion