Das neue Heft der Sozial.Geschichte Online ist auf den Seiten von DuEPublico als PDF erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Die Printausgabe von Heft 23 wird in Kürze erscheinen. Das aktuelle Heft enthält den zweiten Teil des Forschungsbeitrags von Ahlrich Meyer und Insa Meinen über Jüdische Immigranten in der belgischen Ökonomie, 1918 bis 1942 (Teil 1 ist bereits in Heft 22 erschienen), einen Forschungsbeitrag von Hartmut Rübner zum Thema Antikommunismus in Aktion. Alfred Weiland, die Gruppe Neues Beginnen und die Nachrichtendienste im Systemkonflikt nach 1945 sowie Diskussionsbeiträge von Rüdiger Hachtmann über Die Sicht auf die „Novemberrevolution“ 1919 bis 2018 und mögliche Perspektiven einer kritischen Revolutionshistoriographie, von Wolfgang Hien über Wechselwirkungen zwischen der Umwelt-, Gesundheits- und Arbeiterbewegung in der BRD der 1970er und 1980er Jahre sowie einen Diskussionsbeitrag von Slave Cubela, Parallelgesellschaftliche Kohäsion. Über einige Bedingungen der Möglichkeit radikaler Subversion. Unter der Rubrik ‚Zeitgeschehen‘ analysieren Lisa Carstensen, Lisa-Marie Heimeshoff, Lisa Riedner Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Migration.
Editorial
Teil 2 des Forschungsartikels von Ahlrich Meyer und Insa Meinen über Jüdische Immigranten in der belgischen Ökonomie (1918 bis 1942) – Teil 1 ist bereits im vorigen Heft erschienen – untersucht die Entstehung, Struktur und stadträumliche Verteilung der Unternehmen vor allem aus Osteuropa kommender jüdischer Immigranten: zumeist kleine, gering mechanisierte Gewerbebetriebe, die auf Selbstausbeutung und der Beschäftigung von Familienmitgliedern basierten und kaum Profit abwarfen. In einer empirisch dichten Analyse stellen Meyer und Meinen die Rolle jüdischer Gewerbebetriebe im Antwerpener Diamantensektor und der Brüsseler Lederwarenbranche dar, zeichnen Geschäfts- und prekäre Überlebensstrategien nach und erschließen die Topographie der Gewerbebetriebe und Ladengeschäfte als dichten lebensweltlichen Zusammenhang im städtischen Raum. Sie beleuchten die Maßnahmen der deutschen Besatzungsbehörden zur Schätzung, Schließung und Liquidierung der Betriebe, die Bemühungen ihrer Inhaber_innen, mit den Betrieben zugleich ihre Existenz und die ihrer Familien zu retten, und schließlich die Deportation zahlreicher Firmeninhaber und ihrer Angehörigen.
Am Beispiel der Gruppe Neues Beginnen um Alfred Weiland beschreibt Hartmut Rübners Forschungsartikel „Antikommunismus in Aktion“ ein besonderes Kapitel des west-östlichen Systemkonflikts nach 1945. Anhand neuer Quellenfunde wird das Verhältnis der aus der rätekommunistischen Tradition der Weimarer Republik stammenden Gruppe Internationaler Sozialisten zu den US-Nachrichtendiensten beleuchtet. Darin wird nachgezeichnet, wie es den östlichen Geheimdiensten gelang, über West-Berlin die oppositionellen Netzwerke in der DDR zu infiltrieren und zu zerschlagen. Als Konfident der US-Geheimdienste spielte der in die DDR entführte Alfred Weiland dabei eine besondere Rolle.
Rüdiger Hachtmanns Diskussionsbeitrag Blick zurück und in die Zukunft. Die Sicht auf die ‚Novemberrevolution‘ 1919 bis 2018 und mögliche Perspektiven einer kritischen Revolutionshistoriographie geht der Frage nach, warum die Monographie von Mark Jones Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik für die Revolutionsforschung einen Meilenstein markiert, und diskutiert im Anschluss daran die Kritik einiger Rezensenten. In der Auseinandersetzung mit der Rezeption des Werkes wird deutlich, wie sich die Perspektiven auf die Ereignisse sowohl in der Historiographie als auch im öffentlichen politischen Diskurs in den vergangenen hundert Jahren gewandelt haben.
Wolfgang Hien beleuchtet in seinem Beitrag „Gesundheit als politische Kategorie“ die Wechselwirkungen zwischen Umwelt-, Gesundheits- und Arbeiterbewegung in der BRD der 1970er und 1980er Jahre. Selbst seit den großen Konferenzen der 1980er Jahre in der Gesundheitsbewegung aktiv, bilanziert Hien deren Realgeschichte mitsamt der in den 1990er Jahren erfolgten politischen und inhaltlichen Diffusion und Fragmentierung. Im Mittelpunkt stehen dabei, wie auch bereits in zahlreichen Texten Hiens in vergangenen Ausgaben der Sozial.Geschichte Online, Aspekte der Zerstörung der physischen und psychischen Gesundheit von Lohnarbeitenden im Arbeitsprozess – und, vor allem anderen, nach sinnvollen und erfolgreichen kollektiven Strategien der Abwehr und des Widerstands dagegen. Dass die Überlegungen dieses Textes eine starke biographische Dimension haben, indem sie nicht nur gesundheitswissenschaftliche Kenntnisse aufnehmen, sondern auch Hiens Erfahrungen als Arbeiter in der chemischen Industrie des Rhein-Neckar-Gebiets sowie in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets verarbeiten, zeigt auch das lebensgeschichtliche Interview unseres Redakteurs Peter Birke mit Hien, das unlängst im VSA-Verlag erschienen ist. In diesem Buch findet sich neben dem vorliegenden Artikel auch ein Aufsatz von Birke zur Geschichte der oppositionellen Arbeiter_innenbewegung, die unseren Autor Wolfgang Hien seit Mitte der 1960er Jahre zutiefst geprägt hat (siehe hierzu auch unser Dossier zum Themenkomplex „1968“).
Slave Cubela diskutiert in seinem Beitrag „Parallelgesellschaftliche Kohäsion. Über einige Bedingungen der Möglichkeit radikaler Subversion“ die Problemstellung, wie aktuelle linke Politik langfristig eine der historischen Arbeiter_innenbewegung vergleichbare alltägliche soziale Verankerung erreichen könnte. Cubelas Strategiepapier knüpft damit an die – nicht zuletzt von Didier Eribons Rückkehr nach Reims ausgelöste und auch in unserem Heft geführte – Debatte um eine „neue Klassenpolitik“ an. Ein zentrales Anliegen des Texts ist die Frage, wie auf das Erstarken des Rechtsextremismus und auf den Rechtsruck auch innerhalb der Arbeiter_innenklasse reagiert werden kann. Cubelas Text wurde in unserer Redaktion kontrovers diskutiert. Der Text wirft Fragen auf: Was ist beispielsweise unter Alltagspolitik und alltäglicher sozialer Verankerung zu verstehen? Wie können politisch-organisatorische Formen entwickelt werden, die eine relative Autonomie gegenüber den vorherrschenden Formen der Vergesellschaftung in Schulen, Unternehmen, Universitäten ermöglichen? Diese Grundfragen sind zudem sehr eng verbunden mit der Debatte um die „Subjekte“, auf die sich linke, emanzipatorische Politik beziehen kann. Wir möchten Interessierte dazu ermuntern, sich in die laufende Diskussion um eine „neue Klassenpolitik“ einzubringen (vgl. hierzu auch den Aufschlag zur Diskussion von Sebastian Friedrich in analyse & kritik).
In unserer Rubrik ‚Zeitgeschehen‘ beschäftigt sich der Beitrag von Lisa Carstensen, Lisa-Marie Heimeshoff und Lisa Riedner mit dem „Zwang zur Arbeit. Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Migration“. Die drei Autorinnen argumentieren, dass Verwertungsprozesse zunehmend zentrale Kriterien sind, nach denen das Migrationsregime restrukturiert wird. Damit wird die Sortierung von Geflüchteten wie EU-Migrant_innen in mehr oder weniger „nützliche“ Lohnarbeiter_innen zu einem bedeutenden Moment staatlicher Politik, mit erheblichen Konsequenzen für antirassistische Forderungen, den Kampf gegen Lager und alltägliche Diskriminierungen sowie für selbstorganisierte migrantische Bewegungen. Der Artikel knüpft thematisch an zwei Beiträge aus früheren Heften an: den Aufsatz der Gruppe Blauer Montag zu „‚Flüchtlingskrise‘ und autoritärer Integration“ sowie die Analyse der Basisdemokratischen Linken Göttingen, „Arbeit um jeden Preis“. Die Autorinnen reflektieren darin, ausführlicher als dies in den genannten Texten geschehen ist, Bezugnahmen des aktuellen Migrationsregimes auf die Geschichte der „Gastarbeit“ in den 1950er bis 1970er Jahren sowie den historischen Wandel des Verhältnisses von Arbeit, Verwertung und Migration seitdem. Damit greifen sie auch in eine Debatte ein, die sich in der kritischen Migrations- und Arbeitsforschung in den letzten Monaten verbreiterte (Siehe etwa: Moritz Altenried / Manuela Bojadžijev / Leif Höfler / Sandro Mezzadra / Mira Wallis (Hg.), Logistische Grenzlandschaften. Das Regime mobiler Arbeit nach dem Sommer der Migration, Münster 2017). Wir werden unsere Reihe zum Themenkomplex „Arbeit und Migration“ in den nächsten Heften fortsetzen und weisen auf unseren Call for Papers hin: Über weitere Beiträge freuen wir uns.
Im Rezensionsteil bespricht Max Gawlich die Dissertation Jörg Wagenblasts über die Tübinger Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Wolfgang Hien stellt Gine Elsners Buch Verfolgt, vertrieben und vergessen über Leben und Werk dreier weitgehend der Vergessenheit überantworteter jüdischer Sozialhygieniker aus Frankfurt am Main vor. Christoph Bawidamann rezensiert Joel Beinins Workers and Thieves. Labor Movements and Popular Uprisings in Tunesia and Egypt, das in vergleichender Perspektive die Geschichte der dominanten Gewerkschaften in beiden Staaten und ihrer Rolle im Vorfeld und während des „arabischen Frühlings“ aufrollt. Gerhard Hanloser stellt schließlich Ulrike Heiders Buch Keine Ruhe nach dem Sturm vor, das sich in halbautobiographischer Perspektive mit der Geschichte von „1968“ in Frankfurt am Main auseinandersetzt. Wir weisen in diesem Zusammenhang auf unser Dossier zum 50-jährigen Jubiläum von 1968 hin.
Wie bereits die letzten beiden Ausgaben, kann auch die vorliegende Zeitschrift wieder in einer Papierversion erworben werden. Das Heft kann per Mail bei der Redaktion bestellt werden; eine Liste der Buchhandlungen, in denen die Zeitschrift erworben werden kann, findet sich auf unserem Blog.
Viel Erkenntnisgewinn beim Lesen wünscht
die Redaktion