Das neue Heft der Sozial.Geschichte Online ist als PDF auf DuEPublico erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Es enthält Beiträge von Jon Lawrence, der die arbeitssoziologische Untersuchung The Affluent Worker (1968/69) einer kritischen Re-Analyse unterzieht, von Frido Wenten zu Gewerkschaftsreformen in China, von Ralf Hoffrogge über die Stellung der KPD-Linken zu Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923, sowie von Gerhard Hanloser zu Olaf Kistenmachers Präsentation tatsächlicher und vermeintlicher antijüdischer Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne. Zwei Beiträge untersuchen den Zusammenhang von „Flüchtlingskrise“ und autoritärer Integration in der Bundesrepublik: Die Gruppe Blauer Montag (Hamburg) thematisieren die Reorganisation staatlicher Kontrollpolitiken im Umgang mit Geflüchteten, und die Basisdemokratische Linke Göttingen analysiert das „Integrationsgesetz“ als Mittel verbesserter Kontrolle und Verwertung migrantischer Arbeitskraft.
Editorial
Das erste Heft von Sozial.Geschichte Online im Jahr 2017 setzt einen Schwerpunkt auf den parteiförmig organisierten Kommunismus, insbesondere das historisch gewordene Beziehungsverhältnis der Kommunistischen Partei Deutschlands zu Nationalismus und Antisemitismus. Zu dieser Frage findet sich zunächst ein Beitrag von Ralf Hoffrogge: „Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPD-Linken zu Ruhrkampf und ihre Kritik am ‚Schlageter-Kurs‘ von 1923“. Hoffrogge analysiert Hintergründe jener berüchtigten Episode, als die exponierte KPD-Funktionärin Ruth Fischer in einer öffentlichen Diskussion im Sommer 1923 den antisemitischen Duktus der anwesenden faschistischen Studierenden aufgriff. Tatsächlich war die Rede Fischers ein Schlüsselereignis und Teil des vom Komintern-Strategen Karl Radek implementierten „Schlageter-Kurses“. Mit diesem sollten Sympathisant_innen aus dem nationalistischen rechten Lager gewonnen oder – in Erwartung einer sozialen Revolution – die aufziehende faschistische Bewegung neutralisiert werden.
Während der Umstand unbestritten ist, dass die KPD diesen Kurs bereits im September des selben Jahres wieder aufgab, wurde den innerparteilichen Konflikten, die sich insbesondere im linken Parteibezirk Berlin an der nationalistischen Kampagne entzündeten, bislang kaum nachgegangen. Der Beitrag Hoffrogges untersucht diese internen Debatten, in denen sich die damalige KPD vor dem Hintergrund der französisch-belgischen Besetzung der Rhein / Ruhr-Region als zutiefst gespalten zeigte. Darüber hinaus beleuchtet Hoffrogge die strukturellen Friktionen im Funktionärsapparat zwischen Vertreter_innen mit proletarischen und bürgerlichen Herkunftsbezügen.
Der Diskussionsbeitrag von Gerhard Hanloser, „Die Rote Fahne und der Antisemitismus“ befasst sich mit einem ganz ähnlichen Thema. Er diskutiert die kürzlich publizierte Dissertation des Hamburger Historikers Olaf Kistenmacher, der antisemitische Aussagen im Zentralorgan der KPD untersucht hat. Hanloser stützt die Einschätzung, dass die KPD-Zeitung solche antisemitischen Parolen und Denkfiguren benutzte – insbesondere in agitatorischer Absicht. Auf der Grundlage einer Kritik methodischer Prämissen Kistenmachers arbeitet der Autor jedoch heraus, dass die Intentionen dieser Aussagen in Kistenmachers Werk zu oberflächlich diskutiert werden. Hanloser zeigt, wie sehr linke Geschichtsschreibung durch die Verknüpfung von historischer Analyse und politischem Engagement geprägt ist: Insbesondere liest er Kistenmachers Arbeit im Kontext der Post-1989-Debatte der Linken und ihrer ahistorischen Setzungen, die die Bedeutung insbesondere des Verhältnisses zwischen Artikulationen von Klassenkämpfen und antisemitischen Denkfiguren nicht richtig zu erfassen vermögen.
David Mayer machte in seinem Artikel „Gute Gründe und doppelte Böden“ in Heft 14 unserer Sozial.Geschichte Online darauf aufmerksam, dass diese Verknüpfung einer analytisch-distanzierten mit einer normativ-engagierten Absicht ein Spezifikum linker Geschichtsschreibung darstellt. Die enge Verflechtung von Analyse und Engagement, der es nicht nur um den richtigen historischen Begriff, sondern stets auch um die richtige gegenwärtige Praxis geht, scheint heute weiterhin dringend notwendig. Hanlosers Kritik an Kistenmachers Arbeit weist insofern aber zugleich auf die Gefahr von Kurzschlüssen hin, die vor allem durch eine Fetischisierung und ahistorische Anwendung von einmal als gewonnen geglaubten Erkenntnissen entstehen kann.
Frido Wentens Forschungsbeitrag „Gewerkschaftsreformen in China – Segen oder Fluch? Kontroverses zu Tarifverhandlungen und ‚zellulärem‘ Aktivismus“ setzt unsere Reihe zum Thema Arbeiterkämpfe in China fort, die Ralf Ruckus unter anderem in seinen Beiträgen zum Thema „Chinese Capitalism in Crisis“ in Heft 18 (2016) und Heft 19 (2016) der Sozial.Geschichte Online begonnen hat [Vgl. auch seine Rezension zu Tobias Ten Brink, Chinas Kapitalismus – Entstehung, Verlauf, Paradoxien in Heft 16 (2015)]. Den in unserer Zeitschrift inzwischen recht ausgeprägten regionalen Schwerpunkt dokumentieren wir im China-Dossier auf unserem Blog.
Wenten untersucht institutionelle Wandlungsprozesse in Südchina nach der Streikwelle von 2010. Er kritisiert den wissenschaftlichen Mainstream, der die chinesischen Arbeiter_innenkämpfe mit dem Maßstab „westlicher“ Gewerkschaftstraditionen und deren vermeintlich teleologischen Fortentwicklungen misst. Er hinterfragt insbesondere den impliziten „Produktivismus“ westlicher Gewerkschaften, den auch der reformorientierte Allgemeine Chinesische Gewerkschaftsbund (ACGB) teile: den Imperativ, dass die Produktivität des Betriebs durch die Kämpfe der Arbeiter_innen nicht gefährdet werden dürfe. In Wirklichkeit trage die Institutionalisierung und Formalisierung von Verhandlungen sowie die Professionalisierung von Gewerkschaftsvertretern dazu bei, dass die Handlungsfähigkeit der Arbeiter_innen eingeschränkt und „wilde“ Protestformen illegalisiert werden. Andererseits ermögliche gerade eine schwache moderate Gewerkschaft, spitzt Wenten zu, in spontanen, schwer kontrollierbaren Streiks bedürfnisorientierte Forderungen effektiv durchzusetzen. Wenten fordert einen offenen Blick auf alternative Formen der Arbeiter_innenbewegung. Seine Analyse überträgt Forschungsperspektiven auf eine „andere Arbeiterbewegung“ (Karl Heinz Roth, Gisela Bock), die im Kontext der Krise der fordistischen Produktionsweise in Europa und Nordamerika Mitte der 1970er Jahre entstanden sind, auf Entwicklungen im Rahmen der nachholenden Modernisierung einer außereuropäischen Nationalökonomie.
Jon Lawrence liefert in seinem Forschungsbeitrag „Workers’ testimony and the sociological reification of the manual / non-manual distinction in 1960s Britain“ eine Re-Analyse einer inzwischen klassischen arbeitssoziologischen Untersuchung: Die Soziolog_innen John Goldthorpe, David Lockwood, Frank Bechhofer und Jennifer Platt versuchten in ihrer 1968/69 erschienenen Studie „The Affluent Worker. Industrial Attitudes and Behaviour“ die These einer Verbürgerlichung der Arbeiter_innenklasse nach dem Zweiten Weltkrieg zu entkräften. Am Beispiel von Untersuchungen in industriellen Großbetrieben der boomenden britischen Industriestadt Luton zeigten sie, dass sich die Einstellungen von Arbeiter_innen und Angestellten zwar bezüglich des häuslichen Lebens und eines instrumentellen Verhältnisses zum Geld anglichen. In vielen Bereichen des Alltagslebens unterschieden sie sich aber weiterhin signifikant. Anhand einer erneuten Auswertung der ursprünglichen Interviewtranskripte gelingt Lawrence eine differenziertere Betrachtung der Einstellungen innerhalb der Gruppen der Arbeiter_innen und Angestellten, die bei Goldthorpe und anderen zu homogen erschienen. Diese Unterschiede fanden zum Beispiel in Diskussionen um gemeinsame beziehungsweise getrennte Kantinen für Arbeiter_innen und Büroangestellte, über Beförderungsaussichten und Aspirationen und den Überlegungen, sich selbständig zu machen, ihren Ausdruck.
Die beiden Beiträge unter der Rubrik „Zeitgeschehen“ widmen sich einem Thema, das in Sozial.Geschichte Online immer wieder verhandelt wurde: Flucht und Migration [Siehe u. a. Dirk Hoerder, Migration Research in Global Perspective. Recent Developments, Sozial.Geschichte Online, 9 (2012), S. 63–84]. Beide Texte rekapitulieren die Entwicklungen der staatlichen Flüchtlingspolitik in Folge des „Sommers der Migration“ von 2015. Zwar haben, wie bereits Helmut Dietrich in einem Beitrag für das Heft 18 der Sozial.Geschichte Online feststellte, die Geflüchteten die „Festung Europa“ zumindest temporär zum Wanken gebracht – in einer Bewegung, die Dietrich mit dem Soziologen Asef Bayat als Non-Movement, als kollektive Aktion nicht-kollektiver Akteur_innen, deutet [Helmut Dietrich, Das Jahr V der arabischen Revolution – Beispiel Tunesien, Sozial.Geschichte Online, 18 (2016), S. 99–118, hier: S. 103]. Doch die vielbeschworene „Autonomie der Migration“ äußert sich gegenwärtig allenfalls räumlich zerstreut und isoliert, und die Bewegungslinke scheint angesichts der Entwicklungen weitgehend sprachlos. Der erste der beiden Beiträge kommt von der Hamburger Gruppe Blauer Montag: „‚Flüchtlingskrise‘ und autoritäre Integration. Zu einigen Aspekten der Reorganisation staatlicher Kontrollpolitiken“. Die Gruppe analysiert die „Flüchtlingskrise“ als Krise europäischer und bundesdeutscher Institutionen und Verwaltungen. Sie beschreibt eine neue Weise des administrativen Umgangs mit Geflüchteten – „repressive Integration“: Das Kontrollregime an den EU-Außengrenzen und die Aushöhlung des Asylrechts werden kombiniert mit Politiken der „Integration“ in Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie ins Bildungssystem, die auf einer „Auslese“ nach ökonomischen Nützlichkeitserwägungen beruhen. „Integration“ – als willige Unterwerfung unter das Paradigma der Nützlichkeit – werde belohnt, „Integrationsversagen“ nicht als Versagen der Systeme gewertet, sondern individualisiert. Der Blaue Montag betont die ideologische Nähe zur Agenda 2010 und stellt zahlreiche Parallelen des Asylbewerberleistungsgesetzes zu den Regelungsinhalten des SGB II fest. Die Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt und der Zugang zu Bildung müsse jedoch misslingen – nicht zuletzt aufgrund einer konsequenten Kürzungspolitik im sozialen Bereich während der letzten dreißig Jahre sowie behördlichen Kommunikations- und Planungsdefiziten. Vielfach bliebe von der versprochen Integration nicht mehr übrig als eine „Integrationssymbolik ohne Substanz“. Den administrativen Spaltungsversuchen – dem Ausspielen von Geflüchteten gegen andere Gruppen sozial Benachteiligter – setzt der Blaue Montag die Forderung entgegen, die Kämpfe der Geflüchteten mit sozialen Kämpfen im Allgemeinen zu verbinden.
Die Basisdemokratische Linke Göttingen analysiert in ihrem Beitrag „Arbeit um jeden Preis“ das neue Integrationsgesetz als Instrument der Selektion, Kontrolle und Verwertung migrantischer Arbeitskraft. Ähnlich wie der Blaue Montag deutet die Göttinger Gruppe das Gesetz, das im Juli 2016 ohne nennenswerte öffentliche Kritik verabschiedet wurde, als Teil eines Workfare-Programms in der Tradition der rot-grünen Agenda 2010 und der SGB-II-Gesetzgebung: Der Zugang zu Erwerbsarbeit wird mit einer rigiden Kontrolle und Disziplinierung der Geflüchteten verknüpft; die Erteilung von Aufenthaltsrechten wird mit einem Arbeitszwang in 80-Cent-Jobs des „Arbeitsmarktprogramms ‚Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen‘ (FIM)“ verbunden. Die Kombination einer Öffnung des Arbeitsmarkts und eines anhaltend restriktiven Grenzregimes an den EU-Außengrenzen wie im Innern deutet die Basisdemokratische Linke als neue Strategie: Die Geflüchteten werden nicht mehr als reiner Kostenfaktor wahrgenommen, sondern als Ressource begriffen, deren ökonomische Verwertbarkeit durch selektive Qualifizierung, Wohnsitzverpflichtung in strukturschwachen Regionen etc. optimiert werden soll – auf Kosten humanitärer Ansprüche.
Das aktuelle Heft der Sozial.Geschichte Online enthält zudem Buchrezensionen zu Legitimationsproblemen in der Erwerbsarbeit, den biographischen Erinnerungen des Anarchisten Max Tobler, der Geschichtsschreibung Griechenlands sowie der Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus.
Wir möchten nicht versäumen, auf zwei Neuerscheinungen hinzuweisen: Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner setzen sich in „Die Reparationsschuld“ (Metropol-Verlag) mit den „deutschen Hypotheken des Zweiten Weltkriegs in Griechenland und Europa“ auseinander.
Max Henningers Buch „Armut, Arbeit, Entwicklung. Politische Texte“ ist soeben im Mandelbaum Verlag erschienen. Henninger, Redakteur der Sozial.Geschichte Online, setzt sich in seinen Texten – darunter einige, die bereits in dieser Zeitschrift erschienen sind – unter anderem mit dem Operaismus, Marx’ Positionen zum Charakter der Industrialisierung sowie zu den Perspektiven kapitalistischer Entwicklung und mit dem Verhältnis von sozialer Bewegung und Parteipolitik auseinander. Er analysiert den politischen Einsatz des ‚Subsistenz‘-Begriffs zur ideologischen Flankierung der gegenwärtigen Austeritätspolitik, die Ambivalenz der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie den Klimawandel als Produkt und potenziellen Endpunkt kapitalistischer Entwicklung.
Zudem noch ein Hinweis in eigener Sache: Sozial.Geschichte Online steht als kostenlos zugängliche Zeitschrift, die bedauerlicherweise keine Honorare für Autor_innen zahlen kann, vor dem Problem, dass derzeit die Finanzierung kommender Ausgaben ungewiss ist. Von daher bitten wir alle Leser_innen der Zeitschrift dringend um ihre Unterstützung [hier unser Spendenaufruf].
Wir wünschen viel Freude beim Lesen!
Die Redaktion