Heft 37 ist erschienen

Die neue Ausgabe von Sozial.Geschichte Online ist auf dem Publikationsserver der Universität Duisburg-Essen erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Zwei Artikel beleuchten gesundheitspolitische Aspekte der NS-Zeit und deren Folgen nach 1945: Lisa Gmeiner analysiert die Rolle des Vereins „Lebensborn“. Engelbert Tacke geht der Rolle der Barmer Ersatzkasse im NS nach. Unsere Redakteurin Christiane Mende arbeitet anhand von Fallbeispielen aus der Glasbranche heraus, warum es in der Bundesrepublik nur selten zu Betriebsübernahmen durch Belegschaften gekommen ist und was sich aus den historischen Erfahrungen für die Gegenwart ableiten lässt. John Holloway argumentiert, dass Freiheit nur in der Enttotalisierung und in der Schaffung einer Welt, in der viele Welten Platz haben, wirklich existieren könne. Das neue Heft enthält zudem Rezensionsessays von Urs Lindner, Gerhard Hanloser und Kolja Lindner sowie eine Buchbesprechung von Julia Fröhlich. Mit Nachrufen auf Toni Negri, Loren Goldner und Gerd Callesen nehmen wir Abschied von drei für uns wichtigen Intellektuellen.

Editorial

Vor 100 Jahren, im Februar 1924, wurde erstmalig in einem deutschen Landtag in Thüringen eine Minderheitenregierung gebildet, die von der Duldung einer völkisch-nationalen Fraktion – der „Vereinigten Völkischen Liste“ (VVL) – abhängig war. Aufgrund des in Thüringen seit 1922 geltenden NSDAP-Verbots hatten sich die Faschisten in anderen Parteien organisiert und konnten damit erfolgreich in den Landtag einziehen. Bei allen Unzulänglichkeiten von historischen Vergleichen mit der Gegenwart – es kriecht angesichts des heutigen Wissens um die auf diese Wahl folgende Entwicklung, gepaart mit den gerade stattfindenden rassistischen Debatten in der Öffentlichkeit, das nackte Grauen in einem hoch.

Was ist zu tun? Der Journalist und Autor Georg Diez schreibt in einem kürzlich in der WOZ erschienen Essay, dass die ständige Klage über die Polarisierung und die Spaltung der Gesellschaft die Probleme verdecke anstatt sie zu benennen. Die Analyse der Verhältnisse verbliebe damit auf dem Level der Tautologie. Dies sei auch durchaus beabsichtigt, denn es sei leichter die Polarisierung zu bejammern, als die dafür womöglich verantwortlichen Ursachen anzugehen. Probleme die insbesondere, aber nicht nur, in den peripheren Regionen besonders gut sichtbar sind: mangelnde technische und soziale Infrastruktur – angefangen von den zu geringen Ressourcen in Schulen und Bildungseinrichtungen bis hin zu privatisierten und dem Profit verschriebenen Alten- und Pflegeheimen. Oder ein über Jahrzehnte rückgebautes öffentliches Verkehrsnetz. Oder die wachsende Ungleichheit. Oder die erschütternden Folgen des Klimawandels. All dies führt zu verstärkter Konkurrenz um vorhandene soziale und materielle Güter.

Und der Kampf um diese wird, wie im Rezessionsessay von Kolja Lindner über Félicien Faurys Studie zur Normalisierung der extremen Rechten in Frankreich in diesem Heft aufgezeigt wird, nicht zuletzt über rassifizierte Ausschlussmechanismen geführt, solange diesem Kampf keine solidarische Alternative entgegengesetzt wird. Wenn also über die Gefahren für die Demokratie gesprochen wird, so müssen die dahinterliegenden Konflikte verstanden werden. Konflikte, die ausgetragen werden müssen, weil sich sonst, wie Georg Dietz weiter schreibt, immer die Seite durchsetze, die über mehr Macht oder Geld verfüge oder einfach mit herzloser Brutalität ausgestattet sei. Es ist also, mit anderen Worten, nicht der bloße Appell an klassenübergreifenden „Zusammenhalt“, sondern die Möglichkeit soziale Konflikte auszutragen, das heißt soziale Gerechtigkeit und Demokratie zu verbinden, die im Kampf gegen die neue Rechte entscheidend ist.

Mehr denn je erscheint mithin wichtig, sich öffentlichen Raum (wieder) anzueignen, sei es auf Straßen und Plätzen, sei es in digitalen Foren, in wissenschaftlichen Debatten, Medien oder tagtäglichen Diskussionszusammenhängen. Eine gesellschaftliche Emanzipation wird ohne Konflikte nicht zu erreichen sein, dies lehrt uns nicht zuletzt die Geschichte. In diesem Sinne mischen wir uns auch in diesem Heft mit kritischen Beiträgen in die Diskussion ein; auf dass der jetzige Kampf anders ausgeht als in den 1930er Jahren.

Die Beiträge in diesem Heft
Im vorliegenden Heft beleuchten gleich zwei Artikel in der Rubrik Forschung im weitesten Sinne gesundheitspolitische Aspekte der NS-Zeit sowie deren Folgen in der Nachkriegszeit. Lisa Gmeiner analysiert im ersten Beitrag die Rolle des Lebensborn e.V., einer von Heinrich Himmler 1935 gegründeten Institution des Dritten Reiches, die der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik diente. Ziel war die Förderung „rassisch wertvoller“ Nachkommenschaft. Dabei untersucht der Aufsatz die Auswirkungen des Lebensborn e. V. auf die Akteur:in­nen, die mit ihm in Verbindung standen, in drei Hauptkategorien: Vergemeinschaftung, Kinderraub und Auslöschen von nicht erwünschtem Erbgut. Durch Auswertung von Quellenmaterial aus den Arolsen Archives und dem Archiv des Bezirks Oberbayern wird die Praxis des Lebensborn e. V. und die Reaktionen der betroffenen Personen analysiert.

Im zweiten Beitrag geht der Journalist Engelbert Tacke der Rolle der Barmer Ersatzkasse im Nationalsozialismus nach und fragt, wie diese Rolle nach 1945 beschrieben bzw. beschwiegen wurde. Es ist über die Geschichte der Barmer Ersatzkasse bisher jenseits interessengeleiteter Festschriften nichts bekannt. Eine erste Auswertung der Quellen zeigt, wie sehr die Krankenkasse in die nationalsozialistischen Ziele der Zwangssterilisation und in die Verfolgung von „Staatsfeinden“, Juden und Jüdinnen sowie unliebsamen Mitgliedern eingebunden war. Die aktive Unterstützung des NS durch die Barmer Ersatzkasse wurde seit der Nachkriegszeit bis heute mehr oder weniger kaschiert. Tacke fordert deswegen dazu auf, diese Geschichte gründlich aufzuarbeiten.

Im dritten Forschungsartikel arbeitet unser Redaktionsmitglied Christiane Mende anhand von fünf Fallbeispielen aus der Mundglasbranche die Gründe heraus, weshalb Belegschaftsübernahmen im bundesdeutschen Kontext keine häufige Praxis waren und auch selten erfolgreich endeten. Sie zeigt, dass die Übernahmen und die Selbstverwaltung von Betrieben durch die darin Arbeitenden in der Regel vor allem in Krisenzeiten stattfanden. Dies war auch im Zuge der wirtschaftlichen Krisenentwicklung seit den 1970er Jahren in allen westeuropäischen Staaten der Fall, wenngleich in der Bundesrepublik weit weniger ausgeprägt als in Italien, Frankreich oder Spanien. Der Artikel betrachtet diese Belegschaftsinitiativen jedoch nicht allein als Krisenphänomene, sondern auch als Ausläufer des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt um „1968“. Gängige Annahmen über die wohlstandsgesättigte oder strukturell fremdbestimmte Passivität der Arbeitenden bürstet Mende dabei gegen den Strich. Die Autorin zeigt auf, was sich aus diesen historischen Erfahrungen für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen ableiten lässt: Können Belegschaftsübernahmen auch in Zukunft ein emanzipatorisches Mittel des Arbeitskampfes sein?

In der Rubrik Diskussion veröffentlichen wir einen, wie wir finden, sehr lesenswerten Text von John Holloway über die Freiheit. In diesem skizziert Holloway die These, dass der Terror der Ökonomie, der den Fortschritt kapitalistischer Entwicklung als unausweichlich ansieht, eine Art Totalität herstelle. Während der orthodoxe Marxismus lediglich dem eine andere Totalität entgegenstellen wolle, setze der autonomen Marxismus wiederum darauf, die Totalität selbst zu negieren. Diese Befreiung von Totalität sei verbunden mit dem Aufbau einer anderen Gesellschaft. Holloway argumentiert, dass Freiheit nur in der Enttotalisierung und der Schaffung einer Welt, in der viele Welten Platz haben, wirklich existieren könne.

In dieser Heftnummer finden sich gleich drei Rezensionsessays. Urs Lindner rezensiert in seinem Beitrag den Band „Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft“ (herausgegeben von Peter Ullrich u. a.). Das angesichts der aktuellen Antisemitismusdebatte sehr aktuelle Buch wird für seine Innovationskraft und seinen Umfang gelobt: Es sei der erste deutsche Band zur Epistemologie und Politik der Definition von Antisemitismus. Es umfasst grundlegende Konzepte, Problemstellungen und Ansätze zur Konzeptualisierung von Judenfeindschaft, gefolgt von einer eingehenden Theoretisierung. Obwohl der Band im Großen und Ganzen eine klare Tendenz zur Definition in der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus aufweise, zeige er auch deren blinden Flecke auf.

In einer zweiten längeren Rezension nimmt unser langjähriger Autor Gerhard Hanloser die Ergebnisse einer Monografie von Lisa Schoß zur Darstellung von Jüdischsein, Antisemitismus und Holocaust in DEFA-Filmen unter die Lupe. Anhand einer Auswahl bekannter und unbekannter DDR-Filme zum Thema komme die Autorin des Buches zu dem Ergebnis, dass Antisemitismus, Judenverfolgung im Dritten Reich und jüdische Lebens- und Existenzweisen in verschiedenen DEFA-Filmen auf bemerkenswerte Weise dargestellt und gewürdigt wurden, so Hanloser. Einige negative Darstellungen und Interpretationen der Erzählabsicht von Schoß werden von Hanloser kritisiert, ebenso wie die Behauptung, die DEFA-Filme würden einer antisemitischen Grammatik folgen.

Im bereits erwähnten Rezensionsessay über die Studie des Soziologen Félicien Faury zur Normalisierung der extremen Rechten in Frankreich vermittelt Kolja Lindner der deutschen Leser:innenschaft die Thesen des bisher nur in französischer Sprache erschienen und jenseits des Rheins vieldiskutierten Buches „Des électeurs ordinaires“ (dt.: Einfache Wähler). In diesem taucht der Autor in die sozialen Repräsentationen rechter Wähler:innen ein und stellt die Komplexität des Themas dar: Ethnie sei die Modalität, in der eine umfassende Krise der kapitalistischen Gesellschaft gelebt werde. Daraus ergebe sich die Bedeutung des Antirassismus im Kampf gegen die extreme Rechte, eine Schlussfolgerung, die, so der Autor der Rezension, auch für die aktuelle Situation in Deutschland gelte.

Eine Rezension von Julia Fröhlich zu „Möckelmann, Transit Istanbul–Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa“ rundet die Buchbesprechungen dieser Ausgabe ab.

Leider müssen wir uns in diesem Heft von drei wichtigen Intellektuellen verabschieden:
Sergio Bologna würdigt in einem sehr persönlichen Beitrag seinen Weggefährten und Freund, den italienischen Philosophen und Politikwissenschaftler Antonio Negri (1933–2023). Im letzten Jahr ist zudem unser Autor, der Historiker und Sozialist Gerd Callesen (1940–2023) verstorben, dessen Wirken und Leben in einem Nachruf von Detlef Siegfried gewürdigt wird. In Erinnerung an unseren Autor Loren Goldner (1947–2024), der im April dieses Jahres verstarb, veröffentlichen wir ein Interview, das Emiliana Armano und Raffaele Sciortino 2018 mit ihm geführt haben.

Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht

die Redaktion