Heft 26 ist erschienen

Das neue Heft der Sozial.Geschichte Online ist auf den Seiten von DuEPublico als PDF erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Die Printausgabe von Heft 26 wird demnächst erscheinen.Unser erstes Heft im Jahr 2020 beschäftigt sich, wie gewohnt, mit einer breiten Palette an Themen: mit den italienischen Arbeitskämpfen der 1970er Jahre, der bereits 2017 begonnenen Debatte um den Zusammenhang von Arbeit und Migration, der Bewegung der Gilets Jaunes in Frankreich sowie den anhaltenden Protesten in Hongkong.

In seinem Forschungsartikel widmet sich Sergio Bologna, langjähriger Dozent für die Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität von Padua und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung für Sozialgeschichte, dem „langen Herbst“ – den italienischen Arbeitskämpfen der 1970er Jahre (Die italienische Originalfassung dieses Aufsatzes ist erschienen in: Franco Amatori (Hg.), L’approdo mancato, Mailand 2017). Dieses Jahrzehnt zeichnete sich in Italien durch ausgedehnte Streiks und Proteste aus, die sich von den Großfabriken in den Dienstleistungssektor (Transport, Gesundheitswesen, öffentliche Verwaltung) ausgebreitet haben. Gegen die gängige These, bei diesen Arbeiterprotesten habe es sich um eine Vorstufe des Terrorismus gehandelt, zeigt Bologna, dass wir es hier tatsächlich mit einem langen Prozess der Emanzipation der Arbeiter und Arbeiterinnen zu tun haben.

Zwei Beiträge in diesem Heft befassen sich im weiteren Sinne mit dem Verhältnis von Rassismus und ökonomischen Interessen im Kontext von Migrationsregimen. Beide Artikel analysieren auf je unterschiedliche Weise, wie sich rassistische Einstellungen und ökonomische Interessen gegenseitig befeuern, aber auch im Widerspruch zueinander stehen können.

Janina Puder beleuchtet in ihrem Forschungsartikel den Zusammenhang von Arbeits- und Migrationsregimen aus einer außereuropäischen Perspektive: Sie widmet sich der „Entwicklung, Arbeitsmarktsegregation und Klassenstruktur in Malaysia“. Ihr Artikel analysiert das Arbeitsmigrationsregime im Kontext der kapitalistischen Entwicklung und der Wachstumsdynamiken des Landes, das seit dem frühen 20. Jahrhundert abhängig vom „Import“ ausländischer Arbeitskräfte war. Die Autorin zeigt, dass das Arbeitsmigrationsregime die Formierung einer prekären, gering qualifizierten Klassenfraktion von Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen förderte, die als Reservearmee für die malaysische Wirtschaft in Anspruch genommen wurde. Die politischen Akteure versuchten bei der Steuerung des Arbeitsmigrationsregimes, sowohl rassistische Ressentiments als auch ökonomische Interessen zu bedienen, die nicht immer übereinstimmen mussten. Gerade in der „Asienkrise“ 1996/97 musste die Regierung die rassistisch geprägte Einschränkung der Arbeitsmigration aufgrund des Drucks von Unternehmen wieder zurücknehmen.

Sebastian Muy nimmt in seinem Diskussionsbeitrag „Verwertung ≤ Entrechtung“ eine Analyse des von der Bundesregierung am 7. Juni 2019 verabschiedeten „Migrationspakets“ vor und zeigt die weitreichenden Folgen für das deutsche Aufenthalts- und Asylrecht auf. Davon ausgehend stellt er in seinem Artikel die Frage, wie die Änderungen im Aufenthalts- und Asylrecht der letzten Jahre in Hinblick auf die Beziehung zwischen Arbeit und Migration einzuordnen sind. Er wirft dabei einen kritischen Blick auf die Debatte um Migration und Arbeit in Sozial.Geschichte Online und die zu diesem Themenkomplex erschienen Aufsätze: den Beitrag der Gruppe Blauer Montag zu „‚Flüchtlingskrise‘ und autoritärer Integration“, die Analyse der Basisdemokratischen Linken Göttingen, „Arbeit um jeden Preis“, den Beitrag von Lisa Carstensen, Lisa-Marie Heimeshoff und Lisa Riedner zu „Verwertungslogiken in den umkämpften Regimen der Anwerbe-, Flucht- und EU-Migration“, und schließlich den im letzten Heft erschienenen Text von Peter Birke und Felix Bluhm, „Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit“.

Muy vertritt die Ansicht, dass die in diesen Artikeln vorherrschende Betonung der wachsenden Bedeutung der Verwertungslogik in der aktuellen Migrations- und Asylpolitik dazu beitrage, dass der wachsende Einfluss von rassistischen, nationalchauvinistischen und migrationsfeindlichen Diskurspositionen auf die Politik unterschätzt werde. Er plädiert dafür, stärker in den Blick zu nehmen, dass die gesetzlichen Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht der letzten Jahre nicht nur durch neoliberale ausbeuterische, sondern auch durch repressive, nationalistisch geprägte Strategien charakterisiert sind. Gerade die Bedeutung letzterer Strategien wird ihm zufolge in den nächsten Jahren zunehmen.

Zwei weitere Beiträge dieses Heftes setzen die Debatte um die Einordnung der Bewegung der Gilets Jaunes in Frankreich fort, die wir im letzten Heft mit einem Interview des Gewerkschaftsaktivisten Willi Hajek begonnen haben. Samuel Hayat begreift in seinem Beitrag die Bewegung – mit E. P. Thompson – als Ausdruck einer Moralischen Ökonomie. Diese materialisiere sich im Falle der Gilets Jaunes nicht nur durch die 42 Forderungen, die die Bewegung aufgestellt hat, sondern auch durch das Vorgehen der Herrschenden, die den Pakt einseitig aufgekündigt haben und sich nun mit dem langanhaltenden Zorn der besitzlosen Klassen konfrontiert sehen. Dass die Wiederherstellung eines solchen Paktes auch struktur- und gesellschaftspolitisch konservative Züge trägt, verdeutlicht Hayat an den Positionen der Gelbwesten zur Frage der Migration, jedoch mit der Betonung, dass „nichts garantiert ist, sondern dass alles offen sei“.

Peter Birke diskutiert Hayats Beitrag im Spannungsfeld zwischen den imaginierten Vergangenheiten, auf die sich soziale Bewegungen beziehen, und ihren emanzipatorischen Potenzialen. Birke hinterfragt dabei vor allem die avantgardistische Vorstellung, dass Bewegungen wie die der Gelbwesten „politisiert“ werden müssten, um sich von ihren reaktionären Tendenzen zu befreien. Mit Hinweis auf E. P. Thompson betont er den eigenständigen und geschichtsbildenden Charakter von Sozialprotesten, deren Dynamik sich zunächst unabhängig von linken Interventionen bildet. Statt die Bewegungen aus höherer Warte zu kommentieren – mithin aus einer Position, die ein Zentralkomitee einnähme –, müsse die Auseinandersetzung in den Bewegungen und mit den Bewegungen geführt werden. Diese seien als Labor zu begreifen, in dem Verhältnisse entstehen können, in denen alle Formen von Herrschaft in Frage gestellt und praktisch überwunden werden können.

Als Beitrag in der Rubrik „Zeitgeschehen“ drucken wir ein Email-Interview mit Au Loong Yu, einem Aktivisten aus Hongkong, der seit langem die Entwicklungen in Hongkong und China kritisch begleitet. In „Continuous Rebellion in Hong Kong“ geht Loong Yu auf die dramatischen Kämpfe mit der Polizei ein, analysiert die verschiedenen Fraktionen der Kämpfenden in Hongkong, ermisst die Bedeutung der Gewerkschaften in der Auseinandersetzung und deutet die Ergebnisse der lokalen Wahlen im November 2019, die den Spielraum der Bewegungen mindestens gefestigt haben und ein wichtiger moralischer Ansporn für die Beteiligten sind. Die Fragen stellten Peter Birke und Lars Stubbe. Ein zweiter Teil des Interviews, das sich der vergleichenden Analyse der aktuellen Sozialprotesten im globalen Maßstab widmen soll, ist angedacht.

Unser Rezensionsteil enthält Buchbesprechungen von Torsten Bewernitz über Wolfgang Hiens Die Arbeit des Körpers. Von der Hochindustrialisierung zur neoliberalen Gegenwart, von Johanna Wolf über Knud Andresens Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre, von Julien Bobineau über Daniel Tödts Darstellung der Geschichte der Évolués in Belgisch-Kongo 1944–1960 und schließlich von Sjoma Liederwald über zwei von Lieselotte Bhatia und Stephan Stracke herausgegebene Bände, die sich mit nationalsozialistischen Endphaseverbrechen im Bergischen Land sowie der NS-Vergangenheit der Wuppertaler Kriminalpolizei auseinandersetzen. Die Annotation eines Rückblicks auf die G 20-Proteste in Hamburg schließt das Heft ab.

Wir danken allen Beitragenden herzlichst für ihre Mitarbeit. Sozial.­Geschichte Online / Offline würde ohne die umfangreiche ehrenamtliche Arbeit auch über die Beiträge unserer Autor_innen hinaus nicht existieren. Wir freuen uns über Unterstützung jeglicher Art, auch durch Abonnements, Mitgliedschaften im Trägerverein der Zeitschrift oder Spenden. Wie bereits die letzten Ausgaben, kann auch die vorliegende Zeitschrift wieder in einer Papierversion erworben werden. Das Heft kann per Mail bei der Redaktion bestellt werden; eine Liste der Buchhandlungen, in denen die Zeitschrift erworben werden kann, findet sich auf unserem Blog.

Viel Erkenntnisgewinn beim Lesen wünscht

die Redaktion