Das neue Heft der Sozial.Geschichte Online ist als PDF auf DuEPublico erschienen und kann dort kostenlos heruntergeladen werden. Die neue Ausgabe, die es neben der sonst üblichen Onlineversion diesmal auch offline geben wird, enthält einen Forschungsbeitrag von Andreas Peglau zur Rolle des Psychoanalytikers Wilhelm Reich in der österreichischen Linken zwischen 1925 und 1930, einen Beitrag von Wulf D. Hund zum Rassismus des Politologen Eric Voegelin, Diskussionsbeiträge von Peter Birke zur Debatte um Didier Eribons Rückkehr nach Reims, von Gerhard Hanloser zu französischen Erklärungsversuchen der gegenwärtigen Schwäche der Linken — ebenfalls eine Auseinandersetzung mit Eribon sowie mit Luc Boltanski / Ève Chiapello und Jean-Claude Michéa — und eine „Spurensuche im Medialen“ vom selben Autor, die in Filmanalysen die widersprüchliche Wiederkehr der Proletarität ins Auge nimmt. Weiterhin bringt das Heft einen Diskussionsbeitrag von Wolfgang Hien über Körper und Arbeit — die Schattenseiten des Wirtschaftswunders in Deutschland und Österreich und den ersten Teil von Karl Heinz Roths Auseinandersetzung mit dem Griechenlandhistoriker Heinz A. Richter. Nikolai Hukes Beitrag zum Zeitgeschehen schließlich untersucht die Politik der ersten Person. Chancen und Risiken am Beispiel der Bewegung 15-M in Spanien.
Editorial
Wir freuen uns über eine neue Ausgabe von Sozial.Geschichte Online, die es neben der sonst üblichen Onlineversion diesmal auch offline geben wird. Denn auch wenn wir festgestellt haben, dass unsere Leser_innen die Möglichkeit, auf einzelne Artikel zugreifen zu können, sehr begrüßen, war es uns doch ein Anliegen, die Gesamtheit von Sozial.Geschichte einmal haptisch erfahrbar zu machen und einen Gesamteindruck unserer Zeitschrift in alter Manier zu vermitteln. Wer sich dieses (vielleicht einmalige Erlebnis) nicht entgehen lassen möchte, kann sich unter service[at]janus-projekte.de gern an uns wenden und eine Druckversion für zehn Euro erwerben.
Ausgabe 21 beschäftigt sich mit unterschiedlichen Themen der jüngeren bis aktuellen Ideen-, Bewegungs- und Sozialgeschichte. So setzt sich Andreas Peglau in seinem Forschungsbeitrag Revolutionärer Sozialdemokrat und Kommunist. Zur Rolle des Psychoanalytikers Wilhelm Reich in der österreichischen „Linken“ zwischen 1925 und 1930 mit dem bislang unterbelichteten politischen Engagement des Psychoanalytikers auseinander. Im Mittelpunkt stehen dabei neue Erkenntnisse über seine Rolle als revolutionärer Sozialdemokrat und parteigebundener Kommunist in seinen Bemühungen um die Herstellung einer Einheitsfront zwischen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sowie der Kommunistischen Partei Österreichs vor dem Hintergrund des aufziehenden Faschismus. Aufgrund seines antifaschistischen Einsatzes wurde der vormalige Freud-Schüler von der eher auf Kollaboration bedachten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Später wurde Reich dann – unter anderem aufgrund seines angeblich konterrevolutionären Buches Massenpsychologie des Faschismus – auch aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen. In einem Epilog geht Peglau der Frage nach, ob Reich wegen seiner Komintern-gesteuerten Aktivitäten als Stalinist bezeichnet werden könnte, bevor er sich ab 1934 vehement gegen den autoritären Führerkult in der Sowjetunion wandte.
Im Anschluss widmet sich Wulf D. Hund in seinem Forschungsbeitrag Die Gemeinschaft edlen Blutes. Marginalie zum Rassismus von Eric Voegelin dem von 1901 bis 1985 lebenden und innerhalb der Politischen Wissenschaften insbesondere wegen seiner Studie Die politischen Religionen (1938) bekannten Denker, und hinterfragt die positive Bewertung seiner Werke über die sogenannte „Rassenfrage“. Dass Voegelin in Wissenschaftskreisen teilweise bis heute als Kritiker des Rassismus gehandelt wird, kann umso mehr überraschen, als dieser bereits frühzeitig mit dem Austrofaschismus sympathisierte und in seinen beiden Büchern Rasse und Staat sowie Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus (1933) diesbezüglich explizite Axiome formuliert hat. Dem Politologen und Philosophen misslang die angestrebte Karriere im NS-Wissenschaftssystem letztlich nur aufgrund seiner mit dem offiziellen „Rassen“-Konstrukt des Nationalsozialismus inkompatiblen Variante rassistischen Denkens. Auf diesen Umstand weist Wulf D. Hund hin, indem er den diesbezüglichen Gedankengängen des Apologeten biologistisch-antihumanistischer Einstellungen nachgeht, der noch immer als Gegner auch des nazistischen Totalitarismus gewürdigt wird.
Auf große Resonanz im deutschsprachigen Raum stieß im vergangenen Jahr der französische Soziologe, Publizist und Bourdieu-Schüler Didier Eribon mit der Übersetzung seiner autobiografischen Reflexion Rückkehr nach Reims (frz. 2009; dt. 2016). Gleich zwei Artikel in diesem Heft setzen sich mit dem Buch auseinander, nicht zuletzt aufgrund der hier diskutierten Erklärungsansätze für den aufziehenden Rechtspopulismus in Europa und seiner Sympathieträgern auch in ehemaligen linken Arbeitermilieus. Peter Birke unternimmt in seinem Diskussionsbeitrag Abheben und Verschwinden. Die Debatte zu Eribons Rückkehr nach Reims eine Bestandsaufnahme der hierzulande geführten Debatte um Eribons „nonfiktionalen Roman“, in der die Bedingungen der Klassengesellschaft auf eigentümliche Weise weitgehend ausgeblendet werden.
Daran anknüpfend beschäftigt sich Gerhard Hanloser Diskussionsbeitrag Französische Erklärungsversuche für die Schwäche der Linken. Eine Auseinandersetzung mit Luc Boltanski / Ève Chiapello, Didier Eribon und Jean-Claude Michéa mit drei Versuchen französischer Theoretiker, die Insuffizienz linker Bewegungen und deren geringen Einfluss auf die Arbeiter_innen zu erklären. Hanloser — auf dessen jüngst in Sozial.Geschichte Online veröffentlichte Beiträge über Die Rote Fahne und den Antisemitismus sowie über Timothy Snyders Darstellung des Holocaust wir an dieser Stelle hinweisen möchten — überzeugt die von Luc Boltanski und Ève Chiapello aufgestellte Behauptung nicht, nach der eine mit der Chiffre 1968 verbundene „Künstlerkritik“ lediglich den Kapitalismus modernisiert habe. Auch die deutlich dem klassisch-parlamentarischen Repräsentationsmodell verpflichtete Intervention Eribons wird thematisiert sowie die in Deutschland bislang wenig bekannten radikalen Einwürfe des Philosophen Jean-Claude Michéa, der der Linken eine Fixierung auf liberale Positionen sowie ein Abrücken von der Solidarität mit den Unterklassen vorhält.
Im Anschluss beschäftigt sich Hanloser in seinem Beitrag Widersprüchliche Wiederkehr der Proletarität. Eine Spurensuche im Medialen mit der restaurierten Fassung von Rainer Werner Fassbinders TV-Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972) sowie dem dreistündigen Film aus dem Jahre 2016 Ceux qui font les révolutions à moitié n’ont fait que se creuser un tombeau (Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves) der beiden Kanadier Mathieu Denis und Simon Lavoie. Während letzterer für Hanloser die Mängel der radikalen Linken der Jetztzeit abbildet, erscheint Fassbinders 45 Jahre alte Fernsehserie mithin als Ausdruck der Empathie mit den Problemlagen der Arbeiter_innenklasse.
Eine Dekonstruktion eines verklärenden Mythos unternimmt Wolfgang Hien in seinem Diskussionsbeitrag Körper und Arbeit – die Schattenseiten des Wirtschaftswunders in Deutschland und Österreich, der sich im Kontext von Arbeitsgeschichte mit den gesundheitlichen Begleiterscheinungen der Industriearbeit in den 1950er bis 1980er Jahre beschäftigt. Hien, der in der Sozial.Geschichte Online bereits zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Arbeitsmedizin veröffentlicht hat [vgl. etwa seine Beiträge zur Asbestkatastrophe, zum Beitrag Ludwig Telekys im Kampf gegen gewerbliche Vergiftungen, oder seine Forschungsskizze zu Arbeitsverhältnissen und Gesundheitszerstörung der Arbeitenden, zeichnet auf der Basis narrativer und biographischer Quellen, ergänzt durch eine kritische Lesart der zeitgenössischen Industriesoziologie, eine Geschichte schwerer körperlicher Belastungen und gesundheitlicher Gefährdungen durch Industriearbeit nach. In dieser Körpergeschichte der Nachkriegszeit befinden sich Leid und Verschleiß in einem durchaus widersprüchlichen Wechselverhältnis zu maskulin konnotierten Körpermythologien.
Der Diskussionsteil beinhaltet außerdem den ersten Teil einer Streitschrift von Karl Heinz Roth, Wohin der Zeitgeist weht. Eine Auseinandersetzung mit dem Griechenlandhistoriker Heinz A. Richter, welcher die aktuelle Debatte über deutsche Reparationszahlungen an Griechenland für die Verbrechen der NS-Besatzungspolitik maßgeblich beeinflusste [vgl. zu diesem Thema die aktuelle Publikation von Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner, Reparationsschuld. Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland, Berlin 2017]. Karl Heinz Roth schildert, wie Richter eine Neubewertung der nazistischen Besatzungsherrschaft unternahm und die bundesdeutsche Verweigerungshaltung im Kontext der weiterhin offenen Entschädigungsfrage argumentativ stützte. Roth befasst sich aber nicht alleine mit Richters Argumenten im Zusammenhang mit der Reparationsfrage, sondern wirft insgesamt einen kritischen Blick auf das Schaffen des Historikers. Durch eine akribische Analyse gelingt es Roth, die methodischen Defizite und ideologisch bedingten Narrative Richters aufzudecken. Unser Autor liefert zugleich eine Zusammenschau der derzeit diskutierten Interpretationen griechischer Geschichte.
In einem Beitrag zum Zeitgeschehen resümiert schließlich Nikolai Huke die Politik der ersten Person. Chancen und Risiken am Beispiel der Bewegung 15-M in Spanien, jene spontanen, parteiunabhängigen Demonstrationen der Jahre 2011/12 der sogenannten Indignados („Empörte“). Damit nimmt sich Huke eines Schwerpunktthemas der Sozial.Geschichte Online an: urbane Kämpfe und Krisenproteste [vgl. etwa Peter Birke und Max Henninger (Hg.), Krisen. Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online, Berlin 2012, und Karl Heinz Roth, Griechenland und die Euro-Krise]. Auf qualitative Interviews mit 47 Aktivistinnen und Aktivisten zurückgreifend, analysiert Huke anhand des methodischen Konzepts der Politik der ersten Person die neuen sozialen Bewegungen. Er stellt dabei heraus, dass Bewegungen wie die Indignados durch die Schaffung neuer Räume der politischen Intervention und Konfliktartikulation sowie durch neue solidarische Praxen zuvor immobilisierte Teile der Bevölkerung erfolgreich aktivieren konnten. Huke macht aber auch deutlich, wie schwer es der Bewegung fiel, gegen hierarchische Strukturen anzugehen und alle gesellschaftlichen Gruppen (vor allem Frauen und Migrant_innen) in die neuen Organisationsformen zu integrieren. Huke zeigt auf, dass bei der Entscheidungsfindung nicht alle in gleicher Weise teilhaben konnten und es an einer kontinuierlichen und wirksamen Organisationsstruktur fehlte.
Im abschließenden Rezensionsteil bespricht Ahlrich Meyer Jörg Späters Biographie des Schriftstellers, Filmtheoretikers und Philosophen Siegfried Kracauer. Unter die Annotationen fällt zum einen die ambitionierte, bereits eingehend rezipierte Studie von Uwe Sonnenberg Von Marx zum Maulwurf über den linken Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren auf, zum anderen wird die nunmehr zwanzigste, wie stets großdimensionierte Ausgabe des Projekts Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit empfohlen.
Schließlich sei noch auf die Bildseiten der vorliegenden Ausgabe verwiesen: Es handelt sich um Ausschnitte der fotografischen Arbeit von Katarina Despotović, die die Künstlerin uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Die Arbeit dokumentiert die Gentrifizierung des migrantisch und proletarisch geprägten Göteborger Stadtteils Hisingen und wirft zugleich ein Licht auf die damit verbundenen alltäglichen sozialen Kämpfe. Die Fotos sind in einem von Despotović gemeinsam mit der Stadtsoziologin Catharina Thörn veröffentlichten Bildband erschienen, der in der vorliegenden Ausgabe von Peter Birke rezensiert wird.
Wir wünschen viel Freude beim Lesen!
Die Redaktion