Heft 19 ist erschienen

Das neue Heft von Sozial.Geschichte Online ist als PDF auf DuEPublico erschienen, mit Beiträgen von Christoph Gollasch über das KZ Sonnenburg, Sylvia Wagner über Arzneimittelstudien an Heimkindern, Ralf Ruckus zu Li Minqi und dem bevorstehenden Kollaps Chinas, Mario Becksteiners Beitrag zu Jacques Rancière, Gerhard Hanlosers Kritik der Thesen des Historikers Timothy Snyder und einem Interview mit Peter Cole zur Geschichte der IWW in Philadelphia.

Editorial

Das neue Heft von Sozial.Geschichte Online setzt sich einmal mehr mit der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus auseinander, die als Teil gegenwärtiger Erinnerungspolitiken diskutiert und auf Perspektiven einer anti-hegemonialen, linken Geschichtsschreibung bezogen wird: Christoph Gollasch stellt seine Forschungen über das KZ Sonnenburg vor, Gerhard Hanloser kritisiert die Thesen des Historikers Timothy Snyder.

Der US-amerikanische Historiker Snyder hat wie nur wenige seiner Zunft in den letzten Jahren die populärwissenschaftliche Debatte um den NS-Terror in Osteuropa geprägt. Er beansprucht mit seinen Werken zu Terror und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, nationalstaatlich bornierte Geschichtsschreibung mittels eines Ansatzes zu überwinden, der den Raum des Terrors und die sich darin kreuzenden Interessen und Dynamiken untersucht. Gerhard Hanloser weist in seinem Beitrag „Der Holocaust und seine geschichtspolitischen Lehren in der Darstellung von Timothy Snyder“ darauf hin, wie sich in die beiden breit rezipierten Bücher Bloodlands und Black Earth geschichtspolitische Interessen einschreiben. Dies wird zum Beispiel an der durchgehend positiven Skizzierung der polnischen Gesellschaft auf der einen und der negativen Zeichnung der sowjetischen Partisanen auf der anderen Seite deutlich. Snyders Darstellung passt sich damit ein in die aktuelle polnische Politik, in der die Auseinandersetzung mit dem historischen und gegenwärtigen polnischen Antisemitismus gemieden wird. Kritisch merkt Hanloser an, dass Snyder die Rolle des Staates und der Bürokratie beim Terror kleinzeichnet, wohingegen er „Staatszerstörung“ als wesentliche Voraussetzung des Holocaust ansieht – eine Diagnose, die ihn gar dazu verleitet, Hitler als „Anarchisten“ zu präsentieren. Eindrücklich beschreibt Hanloser schließlich Snyders Entpolitisierung von Gewalt in der Konstruktion von „Gewalträumen“ und „Gewaltspiralen“. Wir verweisen auf die in Sozial.Geschichte Online geführte Debatte über den ähnlich gelagerten Gewaltbegriff des Osteuropa-Historikers Jörg Baberowski. [Vgl. Frank Borris’ Rezension zu Jörg Baberowski, Franziska Bruders Rezension zu Felix Schnell sowie Max Henningers Anmerkungen zu Jörg Baberowski.]

Der Forschungsbeitrag von Christoph Gollasch, „‚Menschen, laßt die Toten ruhn‘ – Das KZ Sonnenburg als Prisma der Frühphase des Nationalsozialismus“, zeigt, wie hegemoniale nationale Erinnerungspolitiken mit kritischen, antifaschistischen geschichtspolitischen Interventionen kollidieren können. Über die Darstellung der Geschichte des KZs Sonnenburg hinaus rekonstruiert Gollasch Konflikte und Auseinandersetzungen um die Erinnerung an dieses Lager, wobei er ein durch Identitätspolitiken, Ausschlüsse und gegensätzliche Geltungsansprüche gekennzeichnetes Terrain sichtet. Gollaschs Auseinandersetzung mit linker, kritischer Erinnerungspolitik kann ebenfalls als Beitrag zu einer Debatte gelesen werden, die in den vergangenen Jahren auch in Sozial.Geschichte Online geführt worden ist. [Vgl. die Rezension von Jan Bönkost zum AutorInnenkollektiv LoukanikosDavid Mayer, Gute Gründe und doppelte Böden. Zur Geschichte ‚linker‘ Geschichtsschreibung und Gottfried Oy/Christoph Schneider, Destruktion und Intervention. Von den Möglichkeiten der Geschichtspolitik.]

Auch der Forschungsbeitrag von Sylvia Wagner über „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte: Arzneimittelstudien an Heimkindern” beschäftigt sich mit Kontinuitäten des Nationalsozialismus und deren ausbleibender oder nur mühsam vorankommender Aufarbeitung. Wagner führt aus, wie der „Runde Tisch Heimerziehung“, der die sexuellen Übergriffe in Heimen untersuchte, sich weigerte, den Medikamentenmissbrauch in Heimen zum Gegenstand zu machen. Ihr Text entfaltet drei Erzählstränge: Sie skandalisiert erstens die Nicht-Thematisierung von Medikamentenversuchen in bundesdeutschen Kinderheimen, fragt zweitens nach der Funktionsweise des Kinderheims als „totaler Institution“ und stellt drittens Kontinuitäten der Praxis der Menschenversuche und der daran beteiligten Mediziner nach dem Nationalsozialismus dar. Dabei setzt sie ihren Schwerpunkt auf die historische Rekonstruktion der Entwicklung juristischer Fragestellungen und kann als Pharmazeutin detaillierte Auskünfte über die Wirkungsweise der Medikamente geben. Medizinethische Fragestellungen wie die nach dem Verhältnis von ärztlicher Verantwortung und der Instrumentalisierung ärztlicher Praxis in Herrschafts- und Disziplinarapparaten, denen Wagner auf dieser Grundlage nachgeht, hat auch Wolfgang Hien in seinen Beiträgen zur Geschichte der Arbeitsmedizin in der Sozial.Geschichte Online mehrfach thematisiert. [Vgl. etwa Wolfgang Hien, Arbeitsverhältnisse und Gesundheitszerstörung der Arbeitenden.]

In der Rubrik Diskussion stellt Ralf Ruckus das Buch von Li Minqi, China and the 21st Century Crisis (2016) vor und diskutiert im Interview mit dem Autor kontrovers dessen Ansatz und Vorhersagen. Der Artikel „Li Minqi on the forthcoming collapse of China’s economy and the capitalist world system“ ist der zweite Teil der Mini-Serie zur Krise des chinesischen Kapitalismus. Im ersten, in Sozial.Geschichte Online Heft 18 erschienen Teil diskutierte Ruckus das neueste Buch Zhang Lus zur chinesischen Automobilindustrie sowie den Kämpfen der Automobilarbeiter_innen und interviewte die Autorin. [Vgl. Ralf Ruckus, Chinese Capitalism in Crisis, Part 1: Zhang Lu on exploitation and workers’ struggle in China’s auto industry] Im vorliegenden Heft geht es nun um Lis Thesen über die sich zuspitzenden Krisen der kapitalistischen Ordnung sowie die sozialen, ökonomischen, politischen und ökologischen Grenzen derselben. Ruckus kritisiert, dass die durch Li skizzierten Alternativen an den Vorstellungen eines sozialistischen Nationalstaats mit Planwirtschaft orientiert bleiben. Als Ausgangspunkt einer kritischen Bewertung der realsozialistischen Erfahrung und als Grundlage einer Diskussion über eine soziale Umwälzung und die Schaffung neuer sozialer Beziehungen jenseits des Kapitalismus bietet Li Minqis Buch dennoch viele Anregungen. [Weitere Texte zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Chinas finden sich im China-Dossier.]

Ebenfalls von aktueller Bedeutung ist das Interview „Zur Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) in Philadelphia“, das Mark Richter mit dem US-Historiker Peter Cole geführt hat. Gegenstand sind Coles Arbeiten über die IWW im Hafen von Philadelphia in den 1910er und 1920er Jahren. Faszinierend ist an dieser Gruppe vor allem, dass sie – anders als fast alle US-Gewerkschaften der Zeit – eine Überwindung rassistisch konnotierter Spaltung nicht nur in der Arbeiterbewegung im Allgemeinen, sondern auch in den betrieblichen Klassenkämpfen im Besonderen anstrebte. Cole beschreibt im Gespräch viele Details, die er in seinen Forschungen über die IWW – auch im transnationalen Vergleich zwischen Südafrika und den USA – ermittelt hat. Er skizziert zudem die widersprüchliche Logik der Organisierung im Betrieb, die selbst vor dem Hintergrund einer antirassistischen Zuspitzung mit zwei zentralen Herausforderungen konfrontiert ist: Erstens muss das Verhältnis zwischen Protest, Mobilisierung und Kontinuität gewerkschaftlicher Organisierung geklärt werden. Und zweitens besteht eine Spannung zwischen der Logik der Organisierung der locals und der allgemeinen Organisierung der Klasse, wie nicht zuletzt die Konflikte um Ein- und Ausschluss von Mitgliedern innerhalb der (historischen) IWW zeigen. [Für den Beitrag bedanken wir uns bei den Genossinnen und Genossen der (aktuellen) IWW.]

Schließlich wird in der aktuellen Ausgabe auch eine theoretische Debatte über Grundbegriffe der Forschung zu Protest und Widerstand im 20. und 21. Jahrhundert weitergeführt, der wir große Bedeutung beimessen: Es geht dabei um die Unterscheidung zwischen Politik und Polizei, Parteiautorität und Bewegungsdynamik. Mario Becksteiner diskutiert in seinem Beitrag „Rancière lesen“ zentrale Aspekte im Werk des heterodoxen französischen Marxisten. Unmittelbarer Anlass ist die erstmalige Veröffentlichung zweier Texte Rancières in deutscher Sprache: 2013 erschien Die Nacht der Proletarier und 2014 Althusser lesen. Becksteiners Re-Lektüre startet an jenem historischen Ort, an dem sich die theoretisch-politischen Ansätze Althussers und Rancières trennen, zwischen den Revolten gegen den Stalinismus in Ungarn und Polen in den 1950er Jahren und den Revolten der 1968er. Beide Ereignisse, und zumal die Arbeiterproteste der späten 1960er Jahre, erschütterten nicht zuletzt die Hegemonie der KP Frankreichs innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und der Linken. Rancière interpretiert die theoretisch-begrifflichen Setzungen seines Lehrers Althusser – und darin insbesondere dessen Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Phasen des Marx’schen Schaffens – als Versuche, die verloren gegangene Autorität der Partei-Philosophie wiederherzustellen. Becksteiner nimmt diesen Konflikt als historische Folie, vor deren Hintergrund die Zuwendung Rancières zur Geschichte der alltäglichen Revolten der Arbeitenden (die sich bis in Träume und Tagebücher zurückverfolgen lassen) neu verstanden werden muss. Die Auseinandersetzung mit dieser weit in das 19. Jahrhundert zurückgreifenden Analyse Rancières fordert zugleich heraus, die eher theoretisch-begrifflichen Teile seines Werks (Das Unvernehmen) neu und anders zu perspektivieren. [Der Text schließt auch in dieser Hinsicht an Mischa Suters „Ein Stachel in der Seite der Sozialgeschichte. Jacques Rancière und die Zeitschrift Les Révoltes Logiques“ an.]

Last but not least werden auch in diesem Heft wieder interessante Neuerscheinungen rezensiert – das Spektrum reicht von der Theorie der politischen Aktion über die Ökonomie der beiden deutschen Staaten vor 1989 bis hin zur Bewegungsgeschichte der 1968er Jahre.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen! Zuvor noch ein Hinweis in eigener Sache: Sozial.Geschichte Online steht als kostenlos zugängliche Zeitschrift, die bedauerlicherweise keine AutorInnenhonorare zahlen kann, vor dem Problem, dass derzeit die Finanzierung kommender Ausgaben ungewiss ist. Von daher bitten wir alle LeserInnen der Zeitschrift dringend um ihre Unterstützung, siehe den Spendenaufruf hier.

Die Redaktion