Im Frühjahr 2023 verbrachte Ingrid Artus einen längeren Aufenthalt in Paris, wo sie an den massiven Demonstrationen gegen die Renten-„Reform“ teilnahm. Was sie dort sah und erlebte, hielt sie schriftlich fest. Ihr Bericht wirft ein interessantes Schlaglicht auf einen Konflikt, der zwar vorerst im Sinne der Herrschenden „gelöst“ wurde, der aber sicher noch lange Nachhall in den französischen Bewegungen finden wird – auch wenn mit der Tötung eines Jugendlichen Ende Juni 2023 ein anderer Aspekt staatlicher Gewalt in der französischen Gesellschaft wieder in den Fokus rückte.
„Hihi – la retraite“ – Proteste gegen die Verlängerung der Lohnarbeit. Ein Pariser Demonstrationstagebuch
Ingrid Artus, Juli 2023
Am 10. Januar 2023 brachte die französische Regierung unter Emmanuel Macron das Gesetz zur Renten„reform“ in der Nationalversammlung ein. An diesem Tag begannen auch die Proteste dagegen. Es geht immerhin um zwei Jahre Lebenszeit, die alle Französ*innen in Zukunft länger schuften sollen, bevor sie Rente beziehen können. Das Rentenalter soll von 62 Jahren auf 64 Jahre angehoben werden. Danach begannen endlose Debatten im Parlament und wiederkehrende Aktionstage mit Massenmobilisierungen im gesamten Land. Die Gewerkschaften riefen in seltener Einigkeit zum Protest, zu Demonstrationen und Streiks auf. Am 7. März 2023 fanden – kurz vor der geplanten Abstimmung in der Nationalversammlung – unter dem Motto „on bloque tout“ (wir blockieren alles) die bislang größten Mobilisierungen statt, mit geschätzten drei Millionen Teilnehmenden in ganz Frankreich. Allein in Paris sollen es rund 800.000 Menschen gewesen sein.

Am 17. März 2023 wurde die zunächst vorgesehene Abstimmung über das Gesetz jedoch abgesagt, denn Macron fürchtete, diese zu verlieren. Stattdessen wurde das Gesetz mit Hilfe des Dekrets 49.3 ohne Abstimmung des Parlaments erlassen. Das obligatorische Misstrauensvotum, das bei der Inanspruchnahme des Dekrets stattfindet, verfehlte die Mehrheit nur um neun Stimmen. Rund drei Viertel der Franzosen und Französinnen sprachen sich in Meinungsumfragen gegen das Gesetz aus – und plädierten zudem für ein Fortführen der Protestbewegung. Dies war die Situation, als ich Mitte März 2023 in Paris eintraf. Die folgenden Notizen entstanden jeweils im Anschluss an (insgesamt drei) Demonstrationen gegen Macrons Rentenreform. Es waren die beeindruckendsten Massenproteste, die ich bislang erlebt habe.

Demonstration am Donnerstag, 23. März 2023: Die Massenhafte
Ein großer Tag. Aktionstag gegen Macrons Rentenreform. Ende letzter Woche ist das Gesetz verabschiedet worden, ohne dass es im Parlament abgestimmt worden wäre. Anfang der Woche sind die Misstrauensvoten gegen Macron gescheitert. Knapp. Es fehlten nur neun Stimmen, um die Regierung abzusetzen und das Parlament aufzulösen. Und heute war le peuple, das Volk, auf der Straße. Eine unübersehbare Menge. Laut. Vielfältig. Jung. Gemeinsam. Wütend. Und begeistert von der eigenen Kraft.
Aber beginnen wir von vorne. Die Demo war für 14.00 Uhr angesetzt. Place de la Bastille. Von dort sollte es zur Opéra gehen, d.h. bis zur Pariser Oper. Eine eher gewöhnliche Demoroute über die großen und breiten Boulevards. Ich war mit einer Freundin, Margot,* für 13.45 Uhr an der Gare de Lyon verabredet, war schon um 13.15 Uhr da und wollte die Gunst der Stunde nutzen, um meine Zugtickets umzutauschen. Angesichts der Streikaktionen im Schienenverkehr hatte die SNCF (die französische Bahngesellschaft) – einmal mehr – meinen Zug annulliert. So ging es mir in dieser Woche schon das dritte Mal. Beim Betreten des Bahnhofs kamen mir die ersten cortèges (Demonstrationszüge) der Gewerkschaften entgegen. Und Umtauschen ging gar nicht. Die Computer waren komplett ausgefallen. Die Bahnhofshalle war voll. Auf der Anzeigetafel stand, dass am Vormittag Menschen auf den Gleisen die Züge blockiert hätten. Viele Züge hatten Verspätung. Ich zuckte die Achseln, halb freudig, halb ärgerlich – und verließ den Bahnhof in Richtung Demo.
Draußen die ersten Busse, die Gewerkschaftsanhänger*innen, vermutlich aus der banlieue (Pariser Umland), in die Innenstadt gebracht hatten. Margot steht schon an der Ecke und wir gehen in Richtung Bastille. Wir sind nicht allein. Die Straße ist schon abgesperrt, voller Menschen und es ist klar, dass viele Passant*innen dasselbe Ziel haben wie wir. Aber selbst als wir die Place de la Bastille erreichen, finde ich es noch nicht so wahnsinnig voll und denke, dass ich mir mehr Leute gewünscht und erwartet hätte. Aber das ändert sich bald. Margot und ich gehen ein wenig weiter nach vorne und es wird enger und enger. Wir weichen in eine etwas ruhigere Seitenstraße aus; dort ist Musik. Die Leute drängeln sich. Ich bin froh, dass wir einen Platz mit dem Rücken an einer Häuserwand finden, und ich bin auch froh, als es nun endlich losgeht. Die Menge ist so dicht, dass es uns nur schwer gelingt, von der Seitenstraße wieder zurück auf den Boulevard zu gelangen. Es geht nur gaaaanz langsam vorwärts. Und es sind wahnsinnig viele Menschen. Nach vorne und nach hinten ist die Menge unübersehbar. „La retraite, à 60 ans, on s’est battu pour l’arriver; on se battra pour la garder“ (Rente mit 60 Jahren. Wir haben gekämpft, um das zu erreichen und wir werden darum kämpfen, es zu behalten). Macron als Margaret Thatcher und als der „Sonnenkönig“ Louis XIV.

Decapitez Macron! Mort au roi! Paris en feu! Taxez les riches! (Enthauptet Macron! Tod dem König! Paris in Flammen! Besteuert die Reichen!). Die école des arts déco (Eliteschule für angewandte Kunst) ist unterwegs mit kreativen Schildern: Es ist z.B. ein Sarg darauf zu sehen, auf dem „hihi la retraite“ (Rente? Zum Lachen) steht, oder auch die Parole „On peut aussi construire des guillotines“ (Wir können auch Guillotinen bauen). Es werden immer noch mehr Menschen. Vorne laufen die linken Basisgewerkschaften SUD (Solidaires Unitaires Démocratiques). Margots Freund erzählt mir später, dass es seit Jahren Rivalitäten darum gäbe, wer den Kopf der Demo bilde. Die (älteste und lange Zeit mitgliederstärkste) kommunistische Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) und die anderen Gewerkschaften ließen SUD inzwischen angeblich gerne vorne laufen, weil es dort die meisten Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt. Obwohl SUD aus eher kleinen Gewerkschaftsgrüppchen besteht, sind diese auf Demonstrationen ausgesprochen präsent, aktiv und militant. Aber regelmäßig überholen viele unorganisierte Menschen und Grüppchen den offiziellen „Kopf“ der Demo und laufen vorneweg. Man und frau will das Feld nicht den offiziellen Gewerkschaften überlassen. Auch die Polizeistrategien reflektieren diesen politischen Aufbau: Die Polizei stationiert regelmäßig die stärksten Kräfte am Ende der Demoroute. Dort findet dann quasi der „Aufprall“ statt zwischen dem aktivsten Teil der Demo und der staatlichen Ordnungsmacht. Im Moment hält sich die Polizei hingegen noch zurück. Man sieht sie kaum. Sie sind eher in Nebenstraßen außer Sichtweite, aber präsent.

Viele Aufkleber von unterschiedlichsten Gruppen zieren die Demoroute und werden verteilt, z.B. von der kommunistischen Partei (PCF), der anarchosyndikalistischen CNT (Conféderation nationale du travail), dem globalisierungskritischen Bündnis Attac sowie trotzkistischen Gruppen verschiedener Couleur, z.B. LO (Lutte Ouvrière = Arbeiterkampf), der ISA (Internationalist Socialist Alternative) und ihrer Frauenorganisation ROSA (Internationalist Socialist Feminists). Die Gewerkschaft der Computerspielearbeiter*innen ist unterwegs – ebenso wie ganze Schulen. Die Studierendengewerkschaften sind laut und gut organisiert, mit eigenen cortèges und Lautsprechern; die verschiedenen Blöcke haben vorne ein Front-Transparent, davor ein bis zwei Menschen mit Lautsprechern, die vor den anderen rückwärts laufen und den cortège anfeuern. Viele laute Frauenstimmen.

Immer wieder hört man das Lied: „On est là, on est là, même si Macron ne veut pas, nous, on est là, à l’honneur des travailleur et pour un monde meilleur, on est là“. (Wir sind da. Wir sind da. Auch wenn Macron das nicht will, wir sind da. Zu Ehren der Arbeiter und für eine bessere Welt, sind wir da). Margot tauscht beim Singen „travailleur“ gegen „chomeur“ (zu Ehren der Arbeitslosen). Aber mensch hört auch andere Lieder: Bella Ciao, Manu Chao mit „il faut se motiver“ (man muss sich motivieren) und „Le chant des partisans“ (das „Lied der Partisanen“ war das populärste Lied der französischen Résistance im Zweiten Weltkrieg), die Partisanen von Amur. Zwischendurch sehen wir einen Wagen mit einer Gruppe Frauen, „les Rosis“, sagt Margot, die eine Art Rave-Party veranstalten. Die Leute tanzen und recken im Rhythmus die Fäuste hoch. Die Themen der Mobilisierung: Die Rentenreform selbstverständlich, Rente ab 60 Jahren ist die offensive Forderung; manchmal wird aber auch schon die Rente ab dreißig Jahren oder ab sechs Jahren gefordert – oder wahlweise ein gesichertes Einkommen.


Aber auch La démocratie (Demokratie) ist ein durchgängiges Thema. Die Verabschiedung der Rentenreform durch das Dekret 49.3 durch Macron erhitzt die Gemüter nachhaltig. Immer wieder spielen die Slogans mit dem Thema Demokratie versus Diktatur. Und es geht um die soziale Frage, die Besteuerung der Reichen – oder wie auf einem Aufkleber der LO: „Geld nicht für die Reichen, sondern für die Menschen“. Die NPA (Nouvelle Parti Anticapitaliste) fordert: „Pas une journée de plus, pas un Euro de moins. Retraite à 60 ans, 37,5 annuités“ (Nicht einen Tag mehr, nicht einen Euro weniger, Rente mit 60 Jahren nach 37,5 Beitragsjahren). Es wird die (Streik-)Macht der Arbeiter*innen beschworen: „Grrrrrrrève“ (Strrrreik) und es heißt auch „Ce que fait le gouvernement, les travailleurs peuvent le défaire par la grève“ (Was die Regierung macht, können die Arbeiter durch Streik rückgängig machen). Ein Mann hat sich auf die Stirn geklebt: „Rève generale“ (statt grève generale = Generalstreik – rève generale = allgemeiner Traum). Ich finde das kreativ und ansprechend – Margot kritisiert es als „Verweichlichung“ harter Forderungen und Kämpfe. Hmm. Am Rand der Mobilisierung, in Nischen und zwischendurch, sind ab und zu auch ökologische Forderungen präsent. Es sind v. a. die Jüngeren, die das artikulieren. Jemand drückt Margot ein Flugblatt in die Hand, das sie zunächst als „FN“ (Front National = Rechtsextremisten)-lastig verdächtigt und wegwirft. Ich habe dasselbe Flugblatt bekommen und argwöhne, dass es eher von der jungen Öko-Links-Bewegung kommen dürfte. Wir fragen eine junge Mit-Demonstrantin und sie bestätigt meine Einschätzung. Die Inhalte seien „loin du FN“ (weit weg vom Front National, der mittlerweile Rassemblement National = RN heisst). Es sind keine Rechten, die das verteilen. Aber es ist interessant und typisch, dass Margot, die seit Jahrzehnten in der radikalen Linken aktiv ist, sich mit der aktuellen Öko-Bewegung gar nicht auskennt. Auch von den Jugendlichen, die sich in Deutschland auf der Straße festkleben, um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu erzwingen, hat sie noch nie gehört. Der FN bzw RN ist übrigens völlig abwesend. Ganz ganz selten sieht mensch zwischendurch mal eine Trikolore (französische Nationalflagge). Aber da muss man schon suchen und aufpassen. Die Mobilisierung ist GANZ KLAR links, die Forderungen sind aus moderat-deutscher Sicht sogar linksradikal, weil überall der Aufstand und die Revolution beschworen werden – was aber in Frankreich eher staatstragend, bzw. integraler Bestandteil bürgerlicher Werte ist, so etwa auch in der Parole: „L’insurrection, ca sert la France“ (Der Aufstand dient Frankreich). Ein kleines bisschen ist hier und da auch Feminismus – im Gewand von „egalité homme-femme“ (Gleichheit von Mann und Frau) – spürbar, auf manchen Aufklebern, Büchertischen, Stickern; sogar eine lila-schwarze Fahne des Anarchafeminismus sichten wir en passant. Aber das feministische Framing ist sehr dezent. Auch hier muss frau suchen, um es zu finden.
Vor allem auf der ersten Strecke zwischen Bastille und dem Place de la République ist es wahnsinnig voll; wir quetschen uns durch die Straßen und müssen auf jeden Schritt aufpassen. Aber alles geht noch recht zivilisiert zu. Es sind noch Kinder mit unterwegs, auch viele ältere und alte Leute. Manche haben ein Fahrrad dabei. Bunt gemischt. Das Théâtre du Soleil (linkes renommiertes Theaterprojekt) trägt einen riesigen Raben als Puppe mit sich.

Noch vor der Place de la République schlägt Margot vor, ein Bierchen zu trinken. Sowas tue ich in Deutschland auf Demos nie. Und tagsüber eigentlich auch nicht. Aber wir finden keinen Patron (Chef eines Cafés), der uns ein Bier serviert. Überall ist es zu voll. Daher gehen wir in den nächsten Supermarkt, kaufen zwei canettes (Bierdosen) und setzen uns einen Moment auf den Place de la République. Auf dem Denkmal klettern Menschen herum. Es ist besprüht, beklebt, Transparente hängen daran. Wir gehen weiter. Erneut ist der Demozug sehr langsam, wenn er sich vom Place de la République in den – eigentlich wahnsinnig breiten – Boulevard hineinquetscht. Weiter vorne auf einem Baugerüst tummeln sich Menschen, um den Riesendemozug von oben zu betrachten. Jemand hat die Tür zum Baustellengerüst aufgestemmt, so dass alle das Gerüst betreten können. Auch auf anderen Gerüsten wird geklettert. Eine Frau sitzt oben auf einem Bushaltestellenhäuschen. Nun fängt es an, dass Reklamewände und Bushaltestellenhäuschen zersplittert sind.

Glasscherben liegen herum. Bauzäune sind umgestoßen worden. Frau muss aufpassen, wo sie hintritt, denn wir laufen permanent über am Boden liegende Bauzäune. Dazwischen die eisernen poteaux (Pfosten), die man auch rechtzeitig sehen und umgehen muss. Die Bushaltestellen sind besprüht und mit einer Vielzahl von Aufklebern übersät. Uns kommt ein offenbar verletzter Mann mit einem Kopfverband entgegen; hinter ihm ein Demo-Sanitäter, der den Weg für ihn freimacht; ein paar Meter weiter eine riesige Blutlache auf dem Boden. Wir bleiben wieder in der Menge stecken, stellen uns mit dem Rücken zur Wand, bzw. zum Eingang einer Bank. Die Bank hat nicht nur geschlossen, die Eingangstür ist auch zersplittert. Neben mir sprüht jemand mit einer Pochoir (Schablone) auf die Wände der Bank. Die frische Farbe riecht nach Alkohol. Zwischendurch riecht es nach Haschisch. Wir gehen weiter. Auch weiter vorne ist die Bank besprüht worden. Die McDonalds-Filiale ist vorsichtshalber komplett geschlossen. Die Angestellten aus Afrika sind noch drin und beobachten von innen neugierig den Demozug. Margot telefoniert mit Freund*innen und wir schaffen es tatsächlich, diese irgendwie in der Menge zu treffen. Unglaublich! Wir beschließen zu fünft nochmal in einem Café halt zu machen – und finden tatsächlich einen Sitzplatz in einem Wettcafé, ein PMU. Ich kann nicht – wie Margot– noch ein Bier trinken. Also einen café crème. Später sehen wir auf der Demoroute viele Abfalleimer gefüllt mit Bierdosen. Das scheint also üblich zu sein, Bierdosen als Wegzehrung. Dazwischen ein paar Stände mit merguez (maghrebinische Hackfleischwürstchen). Die Männer im Wettcafé haben nur Augen für die Pferderennen auf dem Bildschirm. Draußen zieht die Demo weiter. Als wir nach einer halben Stunde wieder rausgehen, ist die Szenerie identisch wie zuvor. Eine riesige Menschenmenge sowohl nach links wie nach rechts und auch in den Seitenstraßen. Nun riechen wir zum ersten Mal Tränengas. Und verbrannte Abfälle. Ganz Paris ist voll davon – von den Abfällen – und immer wieder werden sie verbrannt. Denn seit Wochen streikt die Müllabfuhr.

Margot erzählt, dass für dieses Wochenende der König von Großbritannien seinen Besuch in Paris angekündigt habe. Man will sich – ganz wie früher – in Versailles treffen. Die Menge sollte daher eigentlich – ganz wie früher – nach Versailles rausdemonstrieren. Aber Margot meint, die Züge nach Versailles würden ohnehin nicht fahren. Dafür habe man gesorgt. Ihr Freund, den wir später treffen, erzählt, dass die Angestellten, die den roten Teppich für den König ausrollen sollten, auch gestreikt hätten. Jedenfalls: Die Anwesenheit des britischen Königs sei ein Grund, den Streik der Pariser Abfallwirtschaft auf jeden Fall auch am kommenden Wochenende fortzusetzen. Paris wird nicht sauber und schön sein bis dahin. Sondern hässlich, verdreckt, voller Müll und Gestank, rebellisch und ungehobelt. Die Leute sind auch wirklich sauer. Macron hat nicht einen Millimeter nachgegeben. Mit seiner Arroganz hat er es geschafft, dass acht Gewerkschaften, die sich sonst spinnefeind sind, wie eine Mauer zusammenstehen. „In Deutschland ist das anders“, sagt Margots Freundin zu mir. „Là, on se parle“. Da spreche man miteinander. Man verhandele. Man trampele nicht einfach über alles hinweg und ohrfeige das Volk. Naja. Mensch denkt ja immer, woanders sei es besser. Aber das ist wohl der Kern der Mobilisierung: Im Grunde geht es um Respekt. Vor der Bevölkerung. Vor den Menschen. Und den zeigt Macron momentan überhaupt nicht. Es ist das, was die Leute so aufbringt. Auch die Jungen. Sie sind übrigens prachtvoll, schön, laut, gut gelaunt, viele. Obwohl es kalt ist, sieht man viel nackte Haut. Ein(e) schwarz Vermummte(r) tanzt verführerisch zum Sambarhythmus. Links neben uns rufen die Kids: „Les jeunes peuvent changer le monde“ (die Jungen können die Welt verändern). Margot antwortet: „Les vieux peuvent changer le monde“ (Die Alten können die Welt verändern). Die Kids antworten mit: „Tout le monde peut changer le monde“ (Alle Welt kann die Welt verändern).
Dann sehen wir zum ersten Mal die Polizeiwagen mit blauem Blinklicht. Sie verbarrikadieren die Straße. Neben und vor ihnen stehen demonstrativ aufgereiht die robocops (Wortspiel aus Roboter und dem abfälligen Begriff cop für Polizist). Margots Freund*innen wollen nicht weitergehen. Der Freund sagt, am Endpunkt der Demonstration, der opéra, sei ohnehin kein Durchkommen; sie sei abgeriegelt. Es wird Tränengas versprüht. Das Freund*innenpaar dreht um. Den dritten Freund haben wir vorhin in der Menge ohnehin verloren. Aber die Demo läuft weiter und ich sehe keinen Grund, das nicht auch zu tun. Wir laufen also weiter. Margot macht mich darauf aufmerksam, dass jetzt keine Kinder mehr dabei seien. Ältere Menschen auch nicht. Es sind fast nur noch jüngere Menschen. Die Situation wird brenzliger. Vorne raucht es. Wir riechen Tränengas. Rechts neben uns sind die Seitenstraßen von Polizei abgeriegelt. Wenn etwas passiert, können wir nicht ausweichen. Ich finde das ungemütlich. Hinter mir knallt es und ich fahre zusammen. Aber es ist nur ein Feuerwerk. Eine Rakete, noch eine Rakete, noch eine Rakete, und noch eine. Goldene Sterne, die vom Himmel fallen. Sehr schön. Neben uns spielt die Musik fröhlich weiter, mit Tuba, Trompete. Tapfer! Schon den weiten Weg zu laufen ist anstrengend. Und dabei noch Musik zu machen!

Aber auch die Kapelle merkt, dass es vorne nun brenzlig wird. Immer mehr Menschen kommen uns entgegen. Die Demo ist nahezu zweigeteilt. Die eine Hälfte läuft nach vorne, die andere zurück. Die Kapelle spielt noch die Internationale, dann dreht sie auch um – obwohl sie normalerweise „jusqu’au-bout“-ist*innen seien (Leute, die bis zum Schluss durchhalten), wie Margot versichert. Wir drehen auch um. Das Tränengas ist jetzt wirklich gut zu riechen. Darauf haben wir keine Lust. Ein paar Minuten lang rufen alle laut „tout le monde déteste la police“ (alle Welt hasst die Polizei) und „police partout. Justice nul part“ (überall Polizei; nirgends Gerechtigkeit). Beim Rückwärtsgehen finden wir heraus, dass die Seitenstraßen auf der anderen Seite nicht von der Polizei verbarrikadiert sind; wir biegen dahin ab, umgehen die Demo und kommen viel weiter hinten wieder zu ihr zurück. Der Zug ist noch längst längst längst nicht zu Ende. Dort hinten sehen wir nun die gewerkschaftlichen cortèges der CGT. Sie tauchen die Demo mit ihren Fackeln und Sprühfeuern in rotes Licht. Es ist inzwischen fast dunkel geworden. Nochmal hören wir die Internationale. Die Demo löst sich nach und nach auf – und die Menschen ergießen sich in die angrenzenden Viertel. Vorne in der Straße brennt es – wieder der Abfall. Feuerwehr fährt durch die Menge; dann CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité = Spezialkräfte der nationalen Polizei); das ganze Viertel ist eine einzige ungeordnete Demo. Wir finden noch einmal ein PMU, treffen darin Margots Freund. Aus dem TV kommt die Nachricht, dass wir heute in Paris 800.000 Menschen gewesen sein sollen. Margots Freund sagt, sogar die Polizei würde 120.000 Menschen zugeben. Das ist ein neuer Rekord. Er mokiert sich, „c’est la folclore“ (das ist Folklore) – dass die Polizei immer nur ein Zehntel(!) der Anzahl der Demonstrant*innen angeben würde, von denen die CGT spreche, die freilich auch nach oben hin übertreibe. Summa summarum: Wir waren vermutlich (mindestens?) eine halbe Million Menschen heute. Nur in Paris. Im ganzen Land vielleicht dreieinhalb oder vier Millionen. Meine Freundin Karine schreibt eine SMS aus der Bretagne: Man spreche in den Nachrichten von einem neuen ´68 – das nun ´23 heiße (oh weh, 55 Jahre hat es gedauert, um das zu wiederholen).
Dann versuchen wir, eine Metrostation zu finden, immer noch umringt von Menschen, die das schicke 1. Arrondissement unsicher machen. Hinter Glasscheiben sitzen feine Menschen vor feinen Tellern, die jeweils mit vier feinen Gläsern ausgestattet sind. Die Bedienerichs haben schwarz-weiße Kellneranzüge an – und auf der Straße brennt der Abfall. Überall Blaulichter. Es knallt und raucht. Und trotzdem gehört die Straße uns und wir haben keine Angst. Es sind zu viele Menschen. Das ist unkontrollierbar. Wir gehen zuerst in die eine Richtung, um eine Metrostation zu finden, aber eine Reihe Polizisten sperrt dort die Straße ab. Auch Richtung Opéra und bei der Pariser Börse ist alles abgeriegelt. Endlich finden wir eine offene Metrostation. Auf der Heimfahrt diskutieren zwei junge Frauen neben mir über den Demoverlauf und zeigen sich Videos von brennenden Zwischenfällen, die mittlerweile im Internet kursieren. Eigentlich würde mich die Metrolinie 1 direkt nach Hause bringen, aber unterwegs wird klar, dass diverse Metrostationen geschlossen sind. Entlang der Demoroute war das selbstverständlich: Alle Metrostationen auf unserem Weg waren abgesperrt. Aber auch nach Auflösung der Demonstration und weitab von der Demoroute hält die Metro nicht an allen Haltestellen. Dies gilt auch für die Station Reuilly-Diderot, wo ich wohne, und die eigentlich einigermaßen weit weg vom Geschehen an der Opéra liegt. Offenbar sind auch noch viele weitere Metrostationen geschlossen: Place de la Concorde etwa, wo am letzten Wochenende permanent illegale Demos waren – und diverse andere. Es ist 20.30 Uhr. Paris hat bereits über sieben Stunden soziale Bewegung hinter sich. Ich steige also Gare de Lyon aus und beschließe, den Rest zu laufen. Es ist eigentümlich, im Vorbeigehen hinter einer Glasscheibe mehrere Frauen im mittleren Alter zu sehen, die offenbar gerade einen Malkurs absolvieren. Sie pinseln hingebungsvoll auf ihre Leinwände und die Lehrerin begutachtet und kommentiert. Auch in den Straßencafés scheint alles wie immer. Aber kurz bevor ich zu Hause bin, kommen mir Unmengen an Polizeiautos entgegen. Und noch eines und noch eines und noch eines und noch eines und noch eines …, alle mit Blaulicht. Die Demos sind noch längst nicht zu Ende. Etwa tausend Leute demonstrieren in der Innenstadtgegend von Les Halles, das hatte schon Margots Freund per Internet herausgefunden; auch an der Opéra gibt es weiterhin Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrant*innen – und in meinem Viertel offenbar auch. Vielleicht ist der Place de la Nation das Mobilisierungszentrum? Ich gehe trotzdem (oder deswegen?) lieber heim. Es beginnt zu regnen. Aber in meiner kleinen Wohnung höre ich noch den ganzen Rest des Abends immer wieder Schreie, es kracht und ruft, ich sehe Blaulichter, höre Sirenen. Paris debout! (Paris aufrecht). Es ist schön, wenn ein Volk sich aufrichtet, Le peuple se redresse, und Respekt fordert.
Demonstration am Donnerstag, 6. April 2023: Die Militante
Wieder Demo. Es ist der 11. Mobilisierungstag gegen die Rentenreform. Der letzte Aktionstag war am Dienstag, dem 28. März 2023, nur fünf Tage nach der Riesendemo, die ich selbst miterlebt hatte. Den habe ich – nolens volens – geschwänzt, für eine Fahrt in die Bretagne, wo (zumindest bei meinen Freundinnen) der Aufstand gegen die Rentenreform nur im Fernsehen stattfand. Danach passierte neun Tage lang nichts – oder nur wenig, eher dezentral, in den Betrieben, auf kleineren Demos. Neun Tage Pause. Viele murrten, dass sich die Gewerkschaften zu viel Zeit ließen mit der erneuten Mobilisierung. Das bremse den Elan. Man müsse „die Jungen“ bei der Stange halten, „sonst langweilen sie sich und machen was anderes“ – als demonstrieren. Hintergrund war aber vielleicht auch, dass ein paar Treffen auf hoher politischer Ebene geplant waren zwischen Gewerkschaften und Regierung. Nicht auf allerhöchster Ebene. Macron redet nicht direkt mit der Gegenseite. Ist wohl unter seiner Würde. Stattdessen traf sich gestern Madame Borne, die Premierministerin, mit den acht Gewerkschaften. Das Gespräch verlief stark ritualisiert. Die Gewerkschaften fragten der Reihe nach, ob Madame Borne das Gesetz zurückziehe und Madame Borne sagte nein. Das war’s dann mit dem Dialog. So berichteten jedenfalls die Medien. Also ist heute wieder Aktionstag. Treffpunkt: 14 Uhr Place des Invalides. Von dort geht es durch die halbe Stadt bis zum Place d’Italie.
Ich bin sehr gespannt, ob die Mobilisierung einen langen Atem hat. Ob es mehr werden, als das letzte Mal? Oder weniger? Viel weniger? Irgendwie bin ich skeptisch und hoffnungsvoll zugleich. In der Zwischenzeit hat sich das politische Klima irgendwie beruhigt. Die Abfallhaufen vom Streik der Pariser Müllabfuhr sind fast alle aufgeräumt. Die Züge fahren ziemlich normal. Sogar die Parolen an den Wänden sind teilweise übertüncht worden. Die allnächtlichen Demos und Aktionen haben (fast) aufgehört. Aber zugleich kann es einfach nicht sein, dass die Mobilisierung zu Ende ist ….
Ich bin diesmal mit Anni, Boris und Ariana am Place d’Opéra verabredet. Schon in der Metro sehe ich am Gleis gegenüber drei Uniformierte stehen. Gendarmerie. Die sieht man sonst eigentlich nicht in der Metro. Aber sie fahren in die andere Richtung. Insgesamt scheint die Metro eher leerer zu sein als sonst. Ob die Leute, die nicht demonstrieren, heute lieber zu Hause bleiben? Home office, um nicht ins Streikchaos zu geraten? Am Place d’Opéra fahren Polizeimotorräder mit Blinklicht und Sirene wichtig durch den Verkehr. Die Staatsgewalt ist nervös – und zeigt sich.
Meine drei Demogefährt*innen kommen zu spät. Aber sie mussten ja auch aus der Banlieue anreisen. Der RER (Nahverkehrszug) ist offenbar ganz normal gefahren. Auf dem Weg zum Demoauftakt frage ich die drei, ob sie denn nun heute streiken. „Mehr oder weniger“ ist die Antwort. Boris ist Logistikarbeiter und hat es inzwischen zum cadre (Führungskraft) gebracht. Er arbeitet daher in Gleitzeit und hat heute schon seine fünf „Mindeststunden“ hinter sich gebracht. Ursprünglich wollte er heute nicht demonstrieren, hat sich aber dann gestern Abend angesichts der Nachrichten spontan entschieden mitzukommen. Er hat also noch gestern seinen Chef angerufen und ihn vorgewarnt, dass er heute Nachmittag auf die Demo gehe, also nicht im Geschäft sei. Der Chef hat das ohne weiteres akzeptiert und sich gewünscht, Boris solle ihn und die Belegschaft bitte auf der Demo vertreten. Auch Anni hat heute schon einen halben Arbeitstag in der Kinderkrippe hinter sich. Sie hatte schon letzte Woche ihre Streikabsicht für heute deklariert. Ihre Arbeitsstunden für heute Nachmittag hat sie aber vorgeholt, bzw. sie wird sie nachholen, damit ihr das Arbeitsentgelt nicht entgeht. Sie hat auch für Vertretung gesorgt. Bei Ariane, die Kunstlehrerin ist, ist das ähnlich. Ein echter „Streik“ ist das also nicht, was die drei da tun. Eher Flexi-Gleitzeit, auf die mensch im Ernstfall ein Recht hat, die aber i. d. R. mit Zustimmung der Vorgesetzten und auf Basis von Selbstorganisation erfolgt. Mensch sorgt sich, dass die Arbeit auch ohne einen klappt heute Nachmittag. Und so richtige finanzielle Ausfälle haben weder die Demonstrierenden noch die Firmen. Es ist eher so, dass die drei ihre rare Freizeit fürs Demonstrieren opfern und diesen Nachmittag und Abend mühsam in ihrem Alltag organisiert haben. Das nenne ich mal revolutionären Elan. Sie haben sogar alle möglichen Schilder, Plakate und Aufkleber dabei, die wir uns wechselseitig anheften und umhängen. Anni als Erzieherin und Ariane als Kunstlehrerin haben ihrer Phantasie und ihrer Bastelwut freien Lauf gelassen und so werden wir unterwegs immer wieder photographiert. Ariana hat Unmengen an Papierherzen mit der Aufschrift grève (Streik) mitgebracht; ein großes Exemplar davon ist an einer elastischen Zeltstange befestigt, das fortan weit über den cortèges wedelt und dafür sorgt, dass ich die drei in der Demo immer gut wiederfinde.
Wir nähern uns dem Place des Invalides und sehen den ersten Riegel aus Polizeiwagen, die vor der Assemblée National (Gebäude des französischen Parlaments) stehen. Wir biegen um die Ecke und sehen auf beiden Bürgersteigen links und rechts (endlich!) die Menschenmassen strömen – auf den Place des Invalides zu. Die Polizei blockiert zwar den Zugang zur Nationalversammlung, kontrolliert aber nicht die Passant*innen. Wir finden uns zunächst im Block der CGT wieder und sind etwas desorientiert. Wo ist der Anfang der Demo? Sind das alle Menschen? Die CGT ist sonst viel massenhafter präsent.

Anni argwöhnt, dass es vielleicht noch einen zweiten Auftaktplatz gäbe. Der halbe Place des Invalides ist leer. Auf dem Rasen eher keine Menschen, nur auf dem breiten Weg, der nach vorne führt. Es könnten wirklich mehr sein. Aber auch das letzte Mal war es ja so, dass am Auftaktplatz die Masse eher spärlich war. Sie kommt dann aus irgendwelchen Quellen im Laufe der Demo dazu. Sie taucht einfach auf und sickert als Rinnsale von allen Seiten in den breiten Strom. Dann begreifen wir, dass wir uns ganz am Ende der Demo befinden. Die Spitze ist auf der anderen Seite des Place des Invalides und die Leute vorne sind schon langsam losgelaufen. Wir beschließen, ein Stück nach vorne zu gehen, sehen unterwegs den feministisch-antirassistischen Block. Die Feministinnen laufen Seite an Seite mit Menschen aus den französischen Überseedepartements Guadeloupe und Martinique. Es gibt laute Musik, einen Bücherstand, merguez, die SUD-Gewerkschafter*innen mit großen Ballons, Zeitungen und Infostände von allen möglichen Gruppen – Ökosozialist*innen, orthodoxe Kommunist*innen, Attac, libertäre Anarchist*innen, die linke Wahlgruppierung LFI (La France insoumise), sogar die Partei „Die Grünen“ sichte ich im Laufe der Demo. Wir schieben uns mit der Menge vorwärts. Alle Universitäten sind vertreten mit lauten, jungen, großen cortèges, Musik und Gesängen. Es laufen oft drei, vier, fünf Jugendliche rückwärts mit Megaphon voran und feuern ihre Kommiliton*innen an. Es macht Freude, den laut schreienden, lachenden, singenden jungen Menschen zuzusehen. Sie sind der hoffnungsvolle Nachwuchs des Mittelstands. Auch das Wetter wird nun besser. Die Sonne lässt sich sehen. Der oder die Wettergott/-göttin hat es bislang immer gut gemeint mit den Demonstrierenden – eine wichtige Unterstützung des Himmels gegen die Rentenreform.
Etwas weiter vorne beeindruckt mich der cortège von SUD-Logistik. Er besteht ausschließlich aus afrikanischen Männern. Im Lautsprecherwagen wird getrommelt. Sie tragen ein großes Transparent, das die Ausbeutung in den Postzulieferdiensten anprangert. Die deutsche DPD (Dynamic Parcel Distribution, ein ausgegründetes Unternehmen der Deutschen Post) hat sogar die Ehre, explizit als Gegner auf dem Transparent genannt zu werden. Einer der Männer drückt mir ein Flugblatt in die Hand. Offenbar gibt es aktuell einen Streik in der Branche, der schon lange dauert und den mensch unterstützen soll. Er richtet sich gegen die gezielte rassistische Ausbeutung von Sans-Papiers (Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus) und generell gegen die Praxis des Subunternehmertums.

Das akustische Demoerlebnis ist in Frankreich übrigens deutlich anders als in Deutschland. Nur ab und an gibt es Wagen mit lauter Musik. Viel häufiger singen die Demonstrierenden selbst – unterstützt von den schon erwähnten Vorsänger*innen und Megaphonträger*innen. Die Student*innen singen in einer Demopause schon mal ohne Probleme die Internationale mit erhobener Faust. Viele Demoparolen werden nicht gerufen, sondern gesungen. Da gibt es etwa das immer wiederkehrende: „On est là, on est là, même si Macron ne veut pas. …“, das sich in immer neue Varianten abwandeln lässt, z. B. wenn Macron gegen patron (Arbeitgeber) ausgetauscht wird. Ein anderes Liedchen endet immer mit: „c’est dégeulasse“ (das ist widerlich) – und je nach politischer Lage lässt sich phantasievoll assoziieren, was genau mensch widerlich findet. Sowas müsste mensch auch auf deutsch erfinden. Überhaupt sollten wir mehr kollektiv singen und tanzen, auch auf Demos. Die sind zu ernst bei uns.
Überall auf unserem Weg kleben bereits Aufkleber, wenn wir vorbeikommen: auf den Straßenlaternen, den Straßenschildern, den Bushaltestellen, den Ampeln, den Rollos der Läden (von denen viele vorsichtshalber geschlossen sind), an den Oberarmen, Jacken und Taschen der Demonstrant*innen, sogar im Gesicht. Da vorne ist ein Stand mit wirklich außergewöhnlich schönen Plakaten und Aufklebern. Das sind bestimmt die Studierenden der Université des Beaux Arts (Kunstuniversität). Oder ein Künstler*innenkollektiv. Mir gefällt besonders ein Bild mit großer Sonne und dem Slogan: „Wir wollen Zeit, um zu leben“.

Auch die vielen Werbetafeln, die den Boulevard säumen, sind beklebt; manche sind auch ersetzt worden durch Plakate. Zwischen Bäumen hängen viele große Transparente. Inhaltlich drehen sich die Forderungen um dieselben Themen wie vor neun Tagen: Verteidigung der Rente – beziehungsweise Reduzierung des Rentenalters auf 60 Jahre oder früher; immer wieder geht es um das Thema Demokratie und dass diese aktuell mit Füßen getreten werde. Eine Frau hat ein Transparent dabei, auf dem ausführlich steht, was sie unter Demokratie versteht (angeblich „nach dem Schweizer Modell“. Ob da die Schweizer*innen wohl gleicher Meinung sind?). Gefordert wird jedenfalls 1. ein imperatives Mandat für die Abgeordneten; diese sollen ihren Wähler*innen permanent direkt verantwortlich bleiben, 2. Gesetzeserlasse durch Volksabstimmungen und 3. die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, einmal erlassene Gesetze auf Forderung der Bevölkerung hin, wieder zurückzuziehen. Auf einem anderen Plakat wird eine „VI. Republik“ gefordert – also eine neue Verfassung.

Der Artikel 49.3 wird immer wieder angegriffen und freilich auch Macron und viele Politiker*innen – persönlich und namentlich. Neben ihm stehen v. a. Elisabeth Borne, die Premierministerin, und der Innenminister Darmanin im Kreuzfeuer. Immer wiederkehrend: Parolen wie „Louis XVI on a decapité – Macron on peut recommencer” (Ludwig, den XVI. haben wir enthauptet – Macron, wir können wieder damit beginnen). Teilweise finde ich die Parolen unangenehm. O.K., dass es in Frankreich zur Tagesordnung gehört, darauf hinzuweisen, dass mächtige Menschen zuweilen geköpft werden, mag noch angehen. Aber ich kann es nicht leiden, wenn Menschen als Ratten, Tiere oder Schmeißfliegen bezeichnet werden. Auch die sexualisierten Parolen gehen mir gegen den Strich. Ich finde es sexistisch, wenn rhetorisch zu Vergewaltigungen aufgefordert wird („Fuck…..xy….!“).
Im Vergleich zur letzten Demonstration vor neun Tagen scheinen mir auch mehr „allgemeine“ Slogans präsent zu sein: gegen Sexismus, für Queer-Rechte, gegen Faschismus („je suis faché, pas facho“ = ich bin wütend, aber kein Faschist; „pas de facho dans le quartier – pas de quartier pour les fachos“ = Kein Faschist im Stadtviertel – kein Stadtviertel für die Faschisten), für die Anerkennung der Sans-Papiers, gegen Abschiebung, für soziale Gerechtigkeit, Klassenkampf, eine bessere Welt. Auch hübsch: „Patrons, patrie, patriarchat – meme racine – meme combat“ (Arbeitgeber, Vaterland, Patriarchat – gleiche Wurzel, gleicher Kampf). Prominent sind viele Parolen und Aufkleber gegen Polizeigewalt, z. B. „Vorsicht, hier schützt die Polizei“.

Wenn sich die Polizei – eher selten – mal am Rande der Demo blicken lässt, erschallen laute Rufe: „AKÁBE“. Ich frage Ariane, die neben mir läuft, was das heißen soll und kapiere schließlich, dass dies die französische Version von „ACAB“ ist. Das konnte mir Ariane zwar „übersetzen“, aber sie weiß dafür gar nicht, für was die (englische) Abkürzung eigentlich steht. Das kann ich ihr wiederum erklären („all cops are bastards“). Auch wenn die Englischkenntnisse in Frankreich manchmal beschränkt sind – gemeinsam klappt die internationale Verständigung.
Diesmal scheinen mir auch mehr Parolen zum Thema Ökologie präsent. Viele Slogans beziehen sich auf die Bassines (Wasserbecken) im westfranzösischen Departement Deux-Sèvres (zwischen Poitiers und La Rochelle), d. h. auf die aktuelle soziale Bewegung gegen geplante Mega-Wasserspeicher. Und häufig geht es auch um Serge oder S., einen jungen Demonstranten, der bei der letzten Großdemo gegen die Mega-Bassines von einer Gasgranate am Kopf getroffen und schwer verletzt wurde. Er liegt noch immer im Koma und kämpft um sein Leben. Eine frisch gesprühte Parole an der Wand lautet: „Serge, Dein revolutionäres Herz schlägt noch. Halte durch! Wir sind bei Dir!“ Oder oft auch: „Gerechtigkeit“ oder „Rache“ für Serge.

Zentraler als vor neun Tagen scheint mir auch die Forderung nach einem Generalstreik, danach „alles zu blockieren“ (on bloque tout) und die einzelnen Blockadeaktionen zu vernetzen, die Streikposten untereinander zu organisieren. Man merkt die Suche danach, wie es angesichts der politischen Pattsituation mit der Bewegung weitergehen könne. Anni meint auch, man müsse viel mehr blockieren. Die Züge dürften nicht fahren, die Energieversorgung müsste eingeschränkt werden, müsste, müsste, müsste. Im Grund herrscht Ratlosigkeit – aber keiner*r will aufgeben.


Die Demo stoppt und wir stehen eine Weile in der Gegend herum. Wir sind wirklich viele. Hunderttausend? Vielleicht auch mehrere Hunderttausend? Keine Ahnung, die Menge lässt sich nicht überblicken. Die CGT wird später von 400.000 Teilnehmer*innen sprechen; die Polizei will nur etwa 60.000 zugeben. Aber es sind wohl tatsächlich nicht so viele wie vor knapp zwei Wochen. Die Menge steht locker; sie drängt und schiebt sich nicht durch die Boulevards, sondern wir laufen ganz normal. Anni meint, es seien mehr Menschen als vor neun Tagen – was den Zählungen der CGT und der Polizei widerspricht. Jedenfalls ist nicht so richtig klar, ob sich die Bewegung nun „erschöpft“ hat oder vielmehr eisern durchhält. Vorne raucht es. Boris liest im Internet, dass es bei der „Rotonde“, angeblich das Lieblingscafé von Macron, weiter vorne einen Zwischenfall gab. Es scheint mir eine ewige Zeit später, bis wir an der „Rotonde“ vorbeikommen. Die Markise des Cafés ist versengt, daneben ein Haufen noch schwelender Fahrräder. Oder waren es mal trottinettes (Elektroroller)? Vermutlich beides.

Am Boden bunte Farbspritzer, wohl von Farbeiern. Die typische Dramaturgie der Anti-Rentenreform-Demos wird mir nun zunehmend klar. Ab etwa der Hälfte beginnt der militante Widerstand. Nun sind die Wände an beiden Seiten der Demonstration zunehmend – und fast ausnahmslos – besprüht. Im Laufe der Demo sind es Hunderte. Die Parolen sind inhaltlich deutlich radikaler als die Schilder der meisten Demonstrant*innen. Es geht oft um Revolution – sei sie kommunistisch oder anarchistisch. Besonders in Erinnerung bleibt mir „ni travail; ni retraite“ (weder Arbeit noch Rente).

Während der gesamten Demo gibt es kleine Stände, an denen Straßenhändler*innen oder auch politische Gruppen (in diesem Fall für die Streikkassen) Bierdosen unter die Leute bringen. Die werden dann in die Abfalleimer geworfen und angezündet (obwohl ich nicht genau weiß, wie man sie zum Brennen bringt). Leider ist aber die Verpflegung insgesamt schlecht. Zu essen findet mensch kaum noch etwas – obwohl eine ältere Frau da vorne madeleines (kleine Kuchen) verkauft, um ihre Rente zu finanzieren, wie ihr Schild bezeugt.
Dann stehen wir an einer Kreuzung und kommen nicht weiter. Vorne geht die Polizei zum ersten Mal in die Menge. Wir wissen nicht, was los ist. Es brennt wieder. Es knallt. Das sind die Kartuschen mit Tränengas. Wir riechen es auch ein bisschen. Dann geht es doch wieder weiter. Auf dem Place Denfert-Rochereau sind die Youngsters auf die Löwen des Denkmals geklettert. Dieses ist freilich auch umfassend besprüht worden. Fahnen und Transparente werden geschwenkt.

Es geht um die Kurve und der Demozug teilt sich, denn der breite Boulevard hat links und rechts eine breite Straße; in der Mitte des Boulevards stehen zwischen den Bäumen Autos. Eines brennt. Hinter mir sagt jemand: „Hier manchen wir lieber keine Photos. Da brennt ein Auto.“ Ich werde nervös, weil ich nicht weiß, was das bedeuten soll. Sollten wir lieber schnell weg von hier? Aber Boris, Anni und ihre Freundin laufen völlig gelassen einfach weiter. Ein brennendes Auto scheint irgendwie normal zu sein. „Ist ja auch blöd, es da in der Mitte stehen zu lassen“, meint Boris. Zwischendurch sieht mensch immer wieder Reihen von behelmten Polizisten. Aber sie halten sich weitgehend zurück, zeigen Präsenz in den angrenzenden Straßen, in die wir nicht laufen sollen, greifen nicht ein. Oder kaum. Nur die Feuerwehr ist permanent im Einsatz.

Aber dann nehmen die Feuer zu. Alle Abfalleimer, an denen wir vorbeikommen, brennen. Manchmal brennt es gefährlich nahe an den Zelten und Verschlägen der Obdachlosen, die unter der Metro schlafen. Bei allen Bushaltestellen, an denen wir vorbeikommen, sind die Fenster zerschlagen. Inzwischen sehe ich nicht mehr nur die Parolen an den Häuserwänden, sondern wir sind mittendrin in der Aktion. Vermummte sprühen fleißig links und rechts. Es knallt wieder vorne. Wir sehen das Tränengas aufsteigen, riechen es aber nur schwach. Hinter mir sagt jemand zu seiner Freundin: „Wenn Du gehen willst, schau, da ist die Metro.“ Eltern bahnen sich mit Kindern einen Weg durch die Menge in entgegengesetzter Richtung. Sie wollen die Demo verlassen. Boah, ich werde nervös, sage zu Boris: „Schau, da vorne sind Polizisten in der Demo“, weil ich eine Reihe Helme sehe, die von links nach rechts die Demo durchziehen. Aber nein. Boris verbessert mich. Das seien die Gewerkschaften. Und tatsächlich hat plötzlich der Großteil der Leute um mich herum Helme auf, eine Maske vorm Gesicht, Sonnenbrillen, Schwimmbrillen, Skibrillen, manche sogar Gasmasken. Wow, die sind richtig ausgerüstet. Dabei laufen wir neben den cortèges der CFDT (Confédération française démocratique du travail) und der UNSA (Union Nationale des Syndicats Autonomes), die eher als sozialpartnerschaftlich-kompromissorientierte Gewerkschaften gelten. Aber sogar die dicken Familienpapis mit Bierbauch haben Helme auf, schwarzes Tuch umgehängt, man hält sich diszipliniert an Seilen fest und geht voran. Vorneweg die Männer. Dazwischen einige wenige Frauen. Martialisch.

Ich komme mir ganz ungeschützt und etwas naiv vor, hoffe, dass wir diese Ausrüstung nicht brauchen. Inzwischen liegen Steine herum. Holzplanken sind von Baumeinfriedungen abgerissen. Sogar ein Eisenpfeiler, der im Pflaster versenkt war, liegt lose herum. Wieder mal bleiben wir stehen. Wieder mal geht es weiter. Ariana meint: „Ils font leur boulot“ (= sie machen ihre Arbeit). „Wen meinst Du?“, frage ich. Die Polizei? Die Feuerwehr? „Les casseurs“ (= wörtlich die „Zerschlager“). Sie meint die (zumeist) Jugendlichen, die die Demo umringen, ihr vorangehen und für Militanz sorgen.
Übrigens sind wir immer noch total viele – obwohl die Demo nun schon über vier Stunden dauert. Wir sind vielleicht sogar mehr als am Anfang. Es ist ja jetzt langsam auch Feierabend und da kann mensch dann noch ein, zwei Stunden auf der Demo mitlaufen. Jedenfalls sind wir so viele, dass mensch die Demo nicht überblicken kann. Manchmal steigt die Straße vorne etwas an, so dass man die Menge etwas besser sehen kann. Die Straßen sind schwarz vor Menschen – nach vorne und nach hinten.

Endlich kommt der Place d’Italie in Sicht. Aber die Polizei lässt uns erstmal nicht mehr weiterlaufen. Rechts brennt es an einer Baustelle. Es knallt wieder. Tränengas. Aber die Leute laufen nicht weg. Sie rufen „Siamo tutti antifascisti“ (wir sind alle Antifaschisten) und klatschen rhythmisch. Sie ziehen sich zurück, wenn die Polizei vorrückt. Boris, Anni und ich bleiben stehen und es sind nur noch einige wenige Reihen zwischen uns und den Polizisten; dann zieht sich die Polizei (glücklicherweise) wieder zurück und die Menge wogt vorwärts. Wir gehen an der Baustelle vorbei, die noch brennt und bei der der Bauzaun niedergerissen ist. Ich stolpere über einen riesengroßen Pflasterstein, der viel zu groß wäre, um ihn zu werfen. Im Inneren des Bauzauns liegt ein ganzer Haufen davon. Ich bin froh, als wir endlich auf den Platz laufen, der etwas breiter ist und auf dem der Rauch nicht so dicht steht. Wir stehen etwas unschlüssig herum. Ariane sagt: „Ich freu’ mich richtig, mal eine Demo bis zum Ende zu laufen. Bei den letzten beiden war das nicht möglich. Die Polizei hat sie zuvor mit Tränengas aufgelöst.“ Ich frage sie, ob es auf französischen Demos eigentlich nie Redebeiträge gäbe. In Deutschland wäre jetzt Abschlusskundgebung. „Nein. Wir sind doch hier nicht im Parlament.“ Hier geht es nicht ums Reden. Es geht darum, Stärke zu zeigen. Und zu protestieren. So wie auf dem Transparent, auf dem nur ein riesiges „nein“ in verschiedenen Sprachen steht. Oder auf dem Aufkleber mit der leicht verständlichen Parole: „Non c’est non“ (Nein heißt Nein).
Wir beschließen, nicht auf dem Platz zu bleiben. Die Lage ist zu unübersichtlich und man riecht das Tränengas und den Rauch. Ich kenne da drüben ein Café. Um es zu erreichen, müssen wir einzeln durch die Polizeisperre hindurchgehen. Sie lassen uns passieren. Im Café ist tatsächlich noch ein Platz in der Ecke frei, obwohl die Party in vollem Gange ist. Die Gäste sind alle (Ex-)Demonstrierende. Sie singen, skandieren lauthals Parolen und sind offensichtlich nicht mehr ganz nüchtern. Wir haben von der überdachten Terrasse aus einen hervorragenden Blick auf die ca. 50 Polizist*innen (es sind tatsächlich einige wenige Frauen dabei), die an dieser Seite den Place d’Italie absperren.

Immer wieder dringt Tränengas auch zu uns ins Café. Beim Hereingehen waren wir über leere Gaskartuschen gestolpert. Plötzlich bekommen wir es sogar hinter unserer Glasscheibe etwas mit der Angst zu tun. Die Polizisten drehen sich weg vom Platz in unsere Richtung und zeigen nach oben. Einer holt eine Art Feuerwaffe, ein kurzes großes Ding, das gefährlich aussieht. Ob das die Gaspistolen sind? Irgendetwas spielt sich offenbar genau über unserer Terrasse ab. Wir haben Angst, dass sie auf uns im Café losgehen, – oder dass die Demonstrierenden das Café anzünden (wie vorhin bei der „Rotonde“). Aber nein. Die Lage entspannt sich wieder. Später sehen wir, dass sich Jugendliche auf dem Dach des Hauses befinden. Daher die Aufregung. Die Polizist*innen hatten wohl Angst, sie könnten von oben beworfen werden.
Auf dem Place d’Italie wogt es hin und her. Wir sehen Trupps von Polizisten hineinrennen. Dann kommen sie wieder zurück. Ariane macht sich Sorgen um die Youngsters („les jeunes“), die vermutlich jetzt auf dem Platz zur Zielscheibe der Polizeigewalt werden. Eine Frau liegt am Boden zwischen Polizisten. Sie wird festgenommen. Andere werden durchgelassen. Der Kellner des Cafés serviert ungerührt auch draußen auf dem Trottoir, vor den Glasscheiben, an den Tischen Chips und Bier. Er trägt sein Tablett über dem Kopf, umringt von Polizisten, Demonstrierenden und Gästen, und raucht zwischendurch sogar eine Zigarette. Irgendwann wird das Tränengas im Café richtig ungemütlich. Immer wenn die Tür aufgeht, schwappt es herein. Wir beschließen, den Rückzug anzutreten. Es ist etwa 19.30 Uhr und wir haben seit Mittag nichts gegessen. Die Füße tun auch weh. Wir verlassen das Café und laufen an etwa 50 Polizeifahrzeugen vorbei. Ich hab’ sie grob gezählt. Gendarmerie und CRS. An einer Ecke steht eine Menge und sieht zu, wie die Polizei einige jüngere Menschen festgenommen hat. Sie rufen: „Liberez les gens!“ (Lasst die Leute frei!). Wir biegen in eine Seitenstraße, wo nochmal eine lange Reihe von Polizeiwagen steht. Und als wir dann endlich an einer anderen großen Straße rauskommen, stehen da nochmal welche. Diesmal mit Motorrädern. Das muss die umstrittene Motorradbrigade Brav-M (brigades de répression des actions violentes motorisées) sein, die in der Vergangenheit wegen allzu brutaler Übergriffe abgeschafft wurde und die Macron im Zuge der „Gelbwesten“-Proteste 2019 wieder aufleben ließ. Boris meint: „Die sind gefährlich.“
Endlich sind wir bei der Metrostation. Wir trennen uns. Die anderen fahren in die Banlieue, ich ins 12. Arrondissement. Immer noch klebt an meiner Schulter ein Aufkleber von SUD/Solidaires gegen die Rentenreform. Ich kann mich nicht recht entschließen, ihn abzunehmen. Es ist auch egal. Vermutlich achtet ohnehin keiner drauf. Ich lasse ihn kleben und gehe noch kurz einkaufen, um mir ein Abendessen machen zu können. Da spricht mich die Supermarktkassiererin an. Sie ist eine kleine Frau in mittleren Jahren, vermutlich mit arabischem Hintergrund. Nach der Tagesschicht wirkt sie abends um 20.30 Uhr müde, aber es interessiert sie trotzdem: „Madame, waren Sie dort?“ Es ist klar, dass sie die Demo meint. „Ja. Ich war dort. Wir waren viele.“ „Wohin sind sie gelaufen?“ „Vom Place des Invalides bis zum Place d’Italie.“ „Das ist weit. Respekt. Hoffentlich nützt es was.“ Sie scheint nicht recht dran zu glauben. Aber sie scheint es zu hoffen. Und es ist klar: Sie ist solidarisch. Ich fühle mich unterstützt und Seite an Seite mit der Kassiererin. Die Bewegung ist in der Bevölkerung verankert – aber nicht mit ihr identisch. Die unteren Lohnarbeiter*innenklassen können es sich kaum leisten, zu demonstrieren und zu streiken. Und trotzdem: Die Demos sind politische Feste, mit denen die Menschen zeigen: Wir sind präsent („on est là“), wir sind viele, wir sind solidarisch, wir sind laut, wir sind geeint („tous ensemble“ = alle gemeinsam), wir fordern Respekt – und hoffen, dass man uns hört und vielleicht doch nicht ganz so schlecht behandelt, wie geplant. Die Demonstrationen haben etwas Offensives, aber latent auch etwas Vergebliches. Es ist ein Anrennen gegen Mauern, gegen die Bastille, die leider nur selten erobert wird. Sie schwanken zwischen Bekräftigung „der Macht des Volkes“, Stolz auf die eigene Stärke, martialischem Auftreten – und der etwas ungläubigen Hoffnung, dass „die da oben“ im Angesicht der Drohungen mal von ihrer Arroganz ablassen und sich etwas anständiger aufführen als gewöhnlich. Leider oft umsonst.
Aber ich denke schon, dass die Mobilisierung weitergehen wird. So kann „le peuple“ (die Bevölkerung) jedenfalls nicht aufhören zu revoltieren. Schließlich gilt es, die Selbstachtung zu wahren. Was stand da heute frisch auf die Mauer gesprüht: „Heb den Kopf und kämpfe“ (auch wenn’s vielleicht nichts nützt…).
Demonstration am Donnerstag, 13. April 2023: Die Festliche
Schön war es heute, einmal mehr: 12. Aktionstag gegen Macrons Rentenreform. Sie lassen nicht nach. Obwohl freilich, die Streiks haben zweifellos nachgelassen. Alle fragen sich, ob die soziale Bewegung weitergehen wird. Aber viele sind noch immer fest entschlossen, sie weiterzuführen. Das ist (fast) unglaublich. Und heute war ja auch nochmal ein wichtiger Tag. Morgen wird der conseil constitutionel (Verfassungsrat) entscheiden, ob das Gesetz, das ja nach dem berühmten Dekret 49.3 zustande gekommen ist, verfassungskonform ist. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, erwarten nicht viel vom conseil constitutionel. Man rechnet allgemein damit, dass der werte oberste Verfassungsrat ein bisschen was herumzukritteln haben wird, aber dass das Gesetz im Großen und Ganzen „passieren“ werde. Nur ein Freund von mir, Antoine, immerhin gelernter Anwalt, sieht schon ein paar mehr Probleme – und damit auch Chancen auf Widerruf. Im Verabschiedungsprozess sei es nicht immer „mit rechten Dingen“ zugegangen; das Gesetz sei zu schnell durchgepeitscht worden. Ausgeschlossen sei es nicht, dass der conseil constitutionel Einwände erhebe. Na, das wäre ja toll – und schade, wenn ich die Siegesfeier nicht mehr mitbekommen würde, denn ich fahre morgen nach Hause. Die Demo heute ist meine Abschiedsdemo.
Ich bin wieder mit zwei Freundinnen verabredet: Margot und Ariane, mit denen ich auch das letzte Mal schon unterwegs war. Nur Boris fehlt. Er arbeitet heute. Viele Bekannte von mir arbeiten heute. Es ist nicht so, dass ganz Frankreich streiken würde. Noch nichtmal die Linken streiken alle. Im Gegenteil: die Streikenden sind eher eine kleine Minderheit. Ich treffe mich mit Margot und Ariane in der Nähe meiner Wohnung. Genau wie das letzte Mal scheint die Metro eher leerer als sonst. Wenn der oder die Pariser*in weiß, dass Streiktag ist, bleibt er oder sie offenbar lieber zu Hause, wenn möglich. In der Metro stimmt uns ein Spanier mit Gitarre und zwei wunderschönen Liedern auf die Demo ein: Auf „Bésame mucho“ folgt „Bella Ciao“. Er hat offenbar unsere Fahnen gesehen, die wir dabei haben und folgerichtig bekommt er von uns einen Obolus. Nach und nach wird uns klar, dass wir auch nicht die Einzigen sind, die zur Demo fahren. Dennoch: Die Metro ist nicht besonders voll, als wir an der Station Opéra ankommen – und trotzdem herrscht auf dem Bahnsteig ein ziemliches Gedränge. Na, immerhin. Wir werden mehr. Mit den Riesen-Massendemonstrationen z. B. am 7. März und am 23. März kann die Menge zwar sicherlich nicht mithalten, aber trotzdem: Wir sind wieder mal viele. Im Souterrain der Metro warten dann auch schon die Polizisten auf uns, jeweils zu fünft. Es sind drei Gruppen. Sie sprechen systematisch nur die jungen Männer in schwarzer Kleidung an. Die müssen den Rucksack aufmachen. Es ist das erste Mal, dass ich Zugangskontrollen vor der Demonstration miterlebe. Die Kräfteverhältnisse verändern sich offenbar.
Oben angekommen haben wir einmal mehr das Gefühl, es könnten mehr sei. Aber ich gewöhne mich langsam daran, dass die Riesendemos ganz am Anfang nicht so riesig scheinen – und dann plötzlich ins Unermessliche anschwellen. Vielleicht ja auch diesmal. Als wir den Platz betreten, regnet es kurz. Aber dann ist Petrus – einmal mehr – doch wieder auf unserer Seite. Obwohl für heute Regen angesagt war, bleiben wir überwiegend trocken und zwischendurch blinzelt auch mal die Sonne durch. Das Wetter ist wie das politische Klima: Eiskalt und windig, wenn die Sonne weg ist – und dann kann es plötzlich sehr schnell sehr heiß werden. „Ca chauffe très vite“ (Das erhitzt sich ganz schnell).
Wir suchen wieder einmal den Anfang der Demo und uns ist nicht mal klar, in welche Richtung es losgehen soll. Ariane kann sich nicht vorstellen, dass es wirklich in die Innenstadt gehen soll, Richtung Louvre, Rue de Rivoli, ins edle Stadtzentrum. Aber wirklich, es geht in die Innenstadt und nachdem wir eine ganze Weile herumgestanden sind, läuft die Demo endlich los. Ich kenne nun viele cortèges und Kollektive schon. Die Parolen wiederholen sich. Auch der Gesang wiederholt sich: „lalalalalalalal grève générale“ (Generalstreik). Mehr braucht es gar nicht. Das lässt sich sehr lange und sehr laut singen und macht gute Laune. Dazwischen gibt es die Trommelkombos und auch wieder die Musikkapelle, die von einer Frau mit Riesentuba angeführt wird. Seeehr fröhlich. Die Stimmung scheint gar nicht nachzulassen am 12. Aktionstag. Und die Parolen sind so siegesgewiss wie eh und je. Ob die Menschen wirklich daran glauben, dass sie sich durchsetzen? Oder ist das nur Aufschneiderei? Ich glaube, sie freuen sich einfach daran, wieder mal viele zu sein und kollektiv ihren Protest in die Welt zu schreien. Macht ja auch Spaß.
Auch in der edlen Innenstadt werden massiv Aufkleber geklebt und hier und da sieht man auch Sprühparolen. Die McDonalds-Filiale ist erstaunlicherweise heil davongekommen. Starbucks hingegen nicht. Auch die historischen Gebäude, wie der Louvre, werden weitgehend verschont – vielleicht aus historischem Bewusstsein, vielleicht weil da Kameras angebracht sind. Die Bushäuschen werden wieder zertrümmert – aber insgesamt knallt und raucht es doch deutlich weniger als das letzte Mal. Auch die Sprühparolen scheinen mir weniger, aber es reicht doch, um eine Art bunten Parolen-Teppich an beiden Seiten auszurollen, bevor die Demo anrückt. Erstaunlich, dass viele von den schicken Läden ungeschoren bleiben. Die Demo ist weniger militant als das letzte Mal, aber dafür besser gelaunt.
Links sperrt mal wieder eine Reihe Polizisten den Weg ab – und müssen sich von jedem vorbeikommenden cortège aufs Neue anschreien lasse. Die CNT hat auf ihrer Höhe das Lied: „A bas avec l’état policier“ (Nieder mit dem Polizeistaat) eingelegt. Was macht das mit Menschen, wenn sie stundenlang von Zigtausenden angeschrien werden?
Da vorne ist wieder das „Demotelephon“, das wir neulich auch schon gesehen haben. Es handelt sich um eine Art Performance. Man kann im Élysée-Palast (Sitz des Präsidenten) anrufen und seine Meinung sagen – aber Macron hört leider chronisch nicht zu. So wie auf den Plakaten, die ihn zeigen, wie er sich selbst küsst.

„Macron dégage“ (Macron hau ab!) und „Egal ob verfassungskonform oder nicht – wir wollen dieses Gesetz nicht“, lauten die Parolen. Margot und Ariane werden von einem Filmemacher angesprochen, der sie interviewen möchte, was sie sich bei ihren phantasievollen Transparenten gedacht haben. Margot verspricht, dass sie sich nach der Demo bei dem camarade (Genossen) melden wird. Ich kaufe ein T-Shirt, auf dem steht „prof en grève“ (Lehrer*in/Professor*in im Streik). Die Studis haben es mit Pochoirs selbst fabriziert. Das ist schon alles sehr vielfältig und kreativ hier. „Les arts en lutte“ (Die Künste im Kampf).
Diesmal wirkt die Demo auf mich etwas kürzer als sonst. Vielleicht sind wir auch einfach etwas schneller gelaufen, weil wir vielleicht nicht so viele sind? Und es gab unterwegs auch nicht so viele Staus und Stockungen. Jedenfalls ist da vorne schon „La Bastille“ und damit das Ende der Demo. „La Banque de France“ (die französische Zentralbank) ist ordentlich besprüht und zertrümmert worden. Neben dem Tatort steht eine Riege Polizisten, die auch etwas Farbe abbekommen hat. Das Denkmal in der Mitte des Place de la Bastille ist schon wieder von vielen Schwarzvermummten in Besitz genommen worden. Wir sind etwas unschlüssig, was wir jetzt tun sollen, stehen ein bisschen rum, links neben uns fängt es an, dass Dinge in die Richtung der Polizisten geworfen werden. Es dauert nicht lange und die Polizei antwortet mit Tränengas. Wir gehen – gemeinsam mit anderen – durchaus langsam schlendernd lieber auf die andere Seite des Platzes. Dort haben sich mehrere Hundert Menschen auf den Stufen der Oper aufgereiht. Die Menschen singen von oben auf uns hinunter – und wir singen von unten zu ihnen hinauf „Paris debout. Soulève-toi!“ (Paris aufrecht! Erhebe dich!). Das hat schon historisches Gewicht, so an der Bastille zu stehen und zum Aufstand aufzurufen. Besonders pittoresk sind zwei junge Frauen, die sich als Wäscherinnen oder Bäckerinnen im Stil des 18. Jahrhunderts verkleidet haben. Sie tragen ein Transparent mit der Aufschrift „Retraite et baguettes“ (Rente und Brot). Wir rufen „siamo tutti antifascisti“ und „aaaaaanti, anticapitalisti“. Es rockt und singt, hinter uns knallt es und mensch riecht Tränengas. Na, wenn das keine romantische Abschiedsfeier ist!
Nach etwa 15 Minuten macht die Polizei dann ernst, geht intensiv mit Tränengas in die Menge rein; die kommt zu uns herübergerannt, der Chor löst sich auf und auch wir verschwinden lieber. Leider müssen wir erst durch Tränengasschwaden und dann durch die Polizeiabsperrung, die uns aber problemlos durchlässt. Ihr Ziel ist es, die Menge aufzulösen, vorläufig (noch) nicht, die Leute festzunehmen. Wir suchen uns wie immer noch ein Café, um den Protest „convivial“ (gemeinschaftlich) ausklingen zu lassen. Kaum sitzen wir, kommt die „Brav-M“ vorbei, die ziemlich verrufene Motorradstaffel. Sie sitzen zu zweit auf ihren Riesenmotorrädern und rollen in Richtung „La nation“. Da ist vermutlich eine unangemeldete Demo, die weiterläuft. Wir diskutieren noch darüber, wie es nun weitergehen wird – und auch über den Ukraine-Krieg, dass dieser in Frankreich in den politischen Debatten so gar keine Rolle spielt. Noch einmal kommt eine ganze Kolonne Polizeiwagen vorbei. Sie haben es eilig. In der Stadt rumort und bebt es offenbar. Wir gehen aber nach Hause und ich bin traurig, dass die Abschiedsfeier zu Ende ist und ich die Folgeserie leider nicht miterleben werde. Denn es ist klar: Dieser Kampf ist noch nicht zu Ende.
Als ich diese Zeilen im Juli 2023 nochmal durchlese und für die Veröffentlichung korrigiere, ist klar: Die Bewegung gegen die Rentenreform war beeindruckend, massenhaft, hatte einen Großteil der Bevölkerung und nahezu alle Argumente auf ihrer Seite; die französischen Medien sprachen davon, sie habe „den politischen Kampf gewonnen“ – aber den machtpolitischen Kampf hat sie verloren. Die Rentenreform wird in Kraft treten, so wie sie Macron angeordnet hat. Die Streiks, die Massendemonstrationen, die parlamentarischen und juristischen Widerstandsversuche haben keine Zeile an dem Gesetz verändert. Auf die Demonstration am 13. April folgte noch eine beachtliche und riesengroße Mobilisierung zum 1. Mai (der aber ohnehin kein Streiktag war) und schließlich ein letzter 14. Aktionstag am 6. Juni 2023, an dem deutlich weniger Demonstrierende präsent waren als zuvor. Danach riefen die Gewerkschaften nicht mehr zu Aktionen auf. In vielen Städten und an vielen Orten wurde (und wird noch immer) der Präsident mit „Topfschlagen“ empfangen, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht den Willen des Volkes vertritt. Die so genannten „casserolades“ sind eine Art Beschämungsaktion. Aber freilich, das beeindruckt Macron kaum. Er versucht, zur Tagesordnung überzugehen. Ende Juni verlor die soziale Bewegung gegen die Rentenreform dann ohnehin an Aufmerksamkeit – angesichts massiver sozialer Aufstände in den Banlieues. Nach einem (erneuten) tödlichen Schuss auf einen 17-Jährigen standen (einmal mehr) die Themen Polizeigewalt und Rassismus im Mittelpunkt. Angriffe auf staatliche und polizeiliche Ziele, Plünderungen und militante Auseinandersetzungen hielten über viele Tage an. Tausende wurden festgenommen. Macron erzielt in Umfragen Minusrekorde von Zustimmung in der Bevölkerung – aber das scheint vor allem den rechtsradikale Rassemblement National zu stärken. Frankreich kommt nicht zur Ruhe – im Gegenteil. Und es ist klar, dass die politische Elite immer weniger das Vertrauen der Bevölkerung besitzt. Unsicher ist, was das für die Zukunft bedeutet….
* Alle Namen wurden anonymisiert.