Migration

Migrationsverhältnisse wurden in Sozial.Geschichte Online bislang im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Perspektiven diskutiert – erstens auf der Grundlage historisch-kritischer Analysen der Veränderung von Kapitalakkumulation und Grenzregimen, zweitens auf der Grundlage gegenwartsbezogener, oft dringlicher Herausforderungen, wie sie die Entwicklungen nach dem „Sommer der Migration“ von 2015 oder während der Coronoapandemie ab 2020 mit sich brachten.

Aus der zweiten Perspektive heraus kritisierten Beiträge in unserer Zeitschrift den mit dem „Integrationsgesetz“ von 2016 und den nachfolgenden „Einwanderungsgesetzen“ vorgezeichneten Weg zu einem verwertungsorientierten Migrationsregime. Analysiert wurde auch, wie die veränderte Gesetzeslage eine Öffnung des Arbeitsmarkts für viele Kategorien einer zugleich staatlich immer stärker differenziert definierten Migrationsgesellschaft einleitete. Einige Texte skizzierten sehr zugespitzt eine Gefahr des „Zwangs zur Arbeit“, die sich aus der multiplen Prekarität der neuen Migration ergebe (Carstensen, Heimeshoff und Riedner in Heft 23 von 2018; Birke und Bluhm in Heft 25 von 2019). Zudem wurde detailliert gezeigt, wie jene Unfreiheit an die Kontinuität des seit den frühen 2000er Jahren in den europäischen Metropolen durchgesetzten Workfare-Regimes anknüpfen konnte (Basisdemokratische Linke Göttingen in Heft 20 von 2017).

Das war eine umstrittene Einschätzung. So warnte etwa Sebastian Muy vor einer Fetischisierung und Vereinseitigung der Kritik an der Verwertungsorientierung (Heft 26 von 2020). Sein zentrales Argument war, dass damit Rassismus ausschließlich instrumentell begriffen wird und wesentliche Aspekte von Rassismus als soziales Verhältnis übersehen und in der Konsequenz nicht benannt werden. Andere Beiträge thematisierten, an diesen Punkt anschließend, den Zusammenhang zwischen Rassismus und staatlicher Politik: Die brennende Aktualität rassistischer Diskurse in einem brutalisierten europäischen Migrationsregime verdeutlichte etwa der Aufsatz von Helmut Dietrich zur Repression gegenüber der Fluchthilfe im Rahmen der EU-Strategien zur „Grenzsicherung“ (Heft 30 von 2021).

Zugleich gab es in Sozial.Geschichte Online immer wieder auch Artikel, die eine Zusammenschau der (vermeintlich konträren) Aspekte Verwertungsorientierung und Migrationsabwehr versuchten: So veröffentlichte die Hamburger Gruppe Blauer Montag etwa einen auf die aktuellen Ereignisse nach dem Integrationsgesetz bezogenen Essay, der eine analytische Verbindung von „autoritärer Integration“ in Arbeitsmarkt und Stadtgesellschaften mit der Analyse der Rekonfiguration von Grenzregimen vorschlug (Heft 20 von 2017). Dieses Thema wurde kürzlich auch in einem Text von Peter Birke und Janika Kuge  zum Grenzregime und den damit verknüpften Kapitalinteressen aufgenommen (Vorveröffentlichung Heft 38 von 2025).

Die Debatte über die Veränderung des Grenz- und Migrationsregimes trat mit dem Ausbruch der Coronapandemie in eine neue Phase – nun stand der Zusammenhang zwischen „migrantisierter“ und „rassifizierter“ Arbeit und den Gesundheitsgefährdungen in der Pandemie im Vordergrund (siehe auch das Dossier zur Pandemie). So reflektierte die Gruppe Blauer Montag schon im April 2020 jenen „Notstand der Arbeitsgesellschaft“, der unter anderem die Verknüpfung von Niedriglöhnen, migrantischer Arbeit und „Systemrelevanz“ kurzzeitig sichtbar machte  (Heft 27 von 2020). In der Artikelserie zur Pandemie fanden sich außerdem Beiträge, die sich speziell mit der Krise der migrantischen Arbeit in der COVID-Periode oder mit den Konflikten und Kämpfen um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie beschäftigten (Birke in Heft 27 von 2020 und in Heft 29 von 2021). Kurz darauf erschienen Analysen zu anderen Sektoren, so zur Landwirtschaft und dem damit verbundenen Diskurs über die „perfekte Migration“ (Biaback Anong in Heft 30 von 2021) sowie eine ethnografische Analyse zur „multiplen Prekarität rumänischer Bauarbeiter in Deutschland“ (Sperneac-Wolfer in Heft 30 von 2021). Ausgangspunkt der Überlegungen von Christian Sperneac-Wolfer waren – ähnlich wie in den Texten von Peter Birke und Dorothea Biaback Anong zu den beiden anderen Branchen – Streiks von migrantischen Arbeiter:innen, wie sie Mitte 2022 unter anderem in Düsseldorf und Hamburg stattfanden.

Diese neue Phase der intensiven Auseinandersetzung mit Migrationsverhältnissen mündete – auch auf der Grundlage der im zuletzt genannten Text formulierten Überlegungen – in die Forderung nach einer stärker theoretisch fundierten und nicht alleine auf Deutschland bezogenen Diskussion. Einen paradigmatischen Text hierzu hatte zu diesem Zeitpunkt Janina Puder bereits mit ihrer Studie zur politischen Ökonomie der Arbeitsmigration am Beispiel der Palmölproduktion in Malaysia beigesteuert, in der sie unter anderem den Begriff der Überausbeutung entwickelt (Heft 26 von 2020). Zudem gehören zu einer theoretisch informierten Debatte über Migration auch die in dieser Zeitschrift veröffentlichten älteren Arbeiten über China von Ralf Ruckus, Pun Ngai oder Lu Huilin, in denen die „interne“ Migration sowie die Frage nach der sozialen und politischen Neuzusammensetzung der Arbeiter:innenklasse eine zentrale Rolle spielen (siehe hierzu ausführlich das Dossier zu China).

Die systematische Bezugnahme auf die Theorien des Operaismus im Zusammenhang mit Migrationsverhältnissen – eine Quelle der Analysen zur sogenannten multiplen Prekarität – ist in Sozial.Geschichte Online keinesfalls neu und hat schon vor dem „Sommer der Migration“ begonnen: So hat Maurizio Coppola am Beispiel der Schweiz bereits 2013 eine solche an sozialen Kämpfen orientierte Analyse (multipler) migrantischer Prekarität vorgelegt (Heft 10 von 2013). Die von ihm aufgezeigte Spur, Migration auch als Form der Arbeitskontrolle / Arbeiter:innenproteste zu verstehen, ist seither oft wieder aufgenommen worden. So berichteten ein Jahr später Anna Curcio und die Gruppe Commonware über Arbeitskämpfe in der Logistikbranche Italiens, die damals und bis heute ganz überwiegend von migrantischen Arbeiter:innen getragen wurden und werden (Heft 13 von 2014). Viele der von Coppola und Curcio diskutierten Überlegungen haben schließlich Johanna Neuhauser und Peter Birke in ihrem Artikel zu „Migration and Work – Theoretical Perspectives under the Impression of Multiple Crises“ wieder aufgegriffen und in dem Begriff „mobility power “ zugespitzt (Heft 34 von 2023). Ziel ist hierbei, die Verbindungslinien zwischen sozialer und politischer Neuzusammensetzung einer fragmentierten Arbeiter:innenklasse zu verstehen.

Sozial.Geschichte Online – seit 2009 eine Onlinezeitschrift – verbindet auf der Metaebene seit jeher theoretische und historische Perspektiven auf Migration. In der ersten Onlineausgabe skizzierte etwa Dirk Hoerder – aus der früheren Generation der Zeitschrift kommend – den damaligen Stand der Debatte anhand eines Kongressberichts (Heft 1 von 2009). Im Marcel van der Linden gewidmeten Sonderheft von 2012 ergänzte Hoerderer seine Überlegungen um einen ausführlichen Forschungsbericht zur Migrationsforschung aus globaler Perspektive (Heft 9 von 2012). Ein Jahr zuvor diskutierte Tobias Mulot die Frage nach der (historischen) Autonomie von Migration (Heft 6 von 2011) – eine Perspektive, die in der Forschung zu langen Linien und großen Vergleichen bis heute oft zu kurz kommt, aber ein wichtiger Aspekt bleibt, um die Dynamiken der Vermittlung, Differenzierung und Widerständigkeit von Migration zu verstehen.

Migration findet in Sozial.Geschichte Online gleichwohl vor allem in der Gegenwart statt. Die meisten der erwähnten Texte sind in der Rubrik „Zeitgeschehen / Current Events“ erschienen. Das ist leicht zu verstehen, denn Migration ist eben ein sich immer bewegendes und immer wieder auch ein aufwühlendes Sozialverhältnis. Und die Herausforderungen, die damit für eine kritische Gesellschaftsanalyse verbunden sind, werden auch in Zukunft gewiss nicht geringer werden.

Die konkrete, quellenkritische Analyse historischer Konflikte um Migration ist deshalb vielleicht eine Textsorte, die in unserer Zeitschrift bis dato etwas wenig vertreten ist. Man könnte meinen, solche Texte gehörten zum „Kerngeschäft“ unserer Zeitschrift. Die Arbeiten von Katharina Bothe und Johanna Wolf zum Verhältnis von Migranten und Gewerkschaften in der westdeutschen Werftindustrie zwischen 1963 und 1980 (Heft 30 von 2021) oder von Ronja Oltmanns zu rassistischen Pogromen, Anschlägen und Asylrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Anfang der 1990er Jahre (Heft 27 von 2020) sind in ihrer geschichtswissenschaftlichen Ausrichtung wichtige Beiträge. In Zukunft gerne mehr davon.

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